Text: Erna Ströbitzer Foto: Herbert Zotti
Es ist Abend. Ich sitze an meinem Schreibtisch im Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes / Österreichische Nationalbibliothek und beende langsam meine Arbeit. Nur Walter Deutsch und ich sind noch da. Auf einmal erklingt eine Melodie. Walter Deutsch hat sich an das Pianino gesetzt, das in seiner unmittelbaren Nähe steht. Aus Akkordfolgen entwickelt er eine Melodie, die fließend in eine andere übergeht, eine weitere Stimme folgt. Dann eine plötzliche harmonische Wendung, die mich anrührt. – Mindestens zehn Minuten dauerten diese seltenen, zauberhaften Improvisationen. Manchmal blitzte ein bekanntes Thema auf, nur um gleich wieder in Variationen oder im imposanten Klang zu verschwinden. Walter Deutsch schien es zu lieben, auch wenn ihm die abnehmende Beweglichkeit seiner Finger ein Dorn im Auge war. In diesen Augenblicken zeigten sich seine neugierigen und verspielten Seiten; es waren Momente für ihn selbst – konzentriert und ganz Musik.
Immer wieder überraschte er das Team mit selbstgemachter Marmelade, seinem Humor und herrlich vorgetragenen, spannenden Geschichten aus seinem Leben. Ich bewunderte ihn für seine Disziplin, aufrecht zu gehen. Seine Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit zu verlieren, wäre für ihn schlimm gewesen. Bis zuletzt beharrte er darauf, sich allein und stehend anzukleiden. Vielleicht war das seine Art, dem Vergehen zu trotzen: Haltung zu bewahren, auch wenn der Körper nachgibt. Er war zeitlebens ein Macher – jemand, der sich und andere forderte, jemand, der mit sich und seiner Umwelt konsequent war.
»Ich vermisse seinen Zauber.«
Ausschnitt aus einem Totenlied in der Handschrift Walter Deutschs [ÖN 23-(7)-16, AÖV/ÖNB]
Wenn ich mit meinen Gruppen in den Räumlichkeiten des Volksliedwerks probte, hörte er manchmal zu – selten ohne Kommentar: Wie wird eine Mazurka begleitet? Wie werden die Stimmen richtig geführt? Gibt es einen authentischen Klang? Wir führten Diskussionen über den Unterschied oder Widerspruch zwischen dem Befolgen von Regeln in der Volksmusikpraxis und dem genauen, unverfälschten Umgang mit Quellen. Walter Deutsch prägte die österreichische Volksliedforschung, deren Institutionalisierung sowie die Pflege von Volksmusik in den Medien wie kein anderer. Sein enormes Wissen und die jahrzehntelange Erfahrung machten ihn zum willkommenen Ansprechpartner für knifflige Archivanfragen. Dadurch konnte ich viel für meine eigenen Recherchen lernen – mich von manchem aber auch abgrenzen. Sein Fokus lag weniger auf der tieferen Verortung in größere Zusammenhänge, als auf Systematik und Form.
Betrachtet man das Ausmaß seines Nachlasses hier im Archiv, lässt sich die Menge an Zeit, Disziplin und Leidenschaft nur erahnen, die Walter Deutsch in seine Forschungen investiert hat. Sie gelten als wertvolle Dokumentation und Basis für weiteres Nachdenken über die Musik und ihre Akteure. Ich vermisse seinen Zauber.
Mit Leidenschaft im Dienst der Sache
1965 gründete er das Institut für Volksmusikforschung an der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, das er bis 1993 leitete. Von 1992 bis 1999 war er Präsident des Österreichischen Volksliedwerkes. Deutsch führte zahlreiche Seminare und auch Feldforschungen durch und dokumentierte so Volksmusik in verschiedenen österreichischen Regionen und in Südtirol. Viele kostbare Bild- und Tondokumente entstanden. Seine Forschungsergebnisse publizierte er sowohl in Notenheften für die Praxis, in Audioproduktionen als auch in wissenschaftlichen Fachbüchern. Einen Höhepunkt seiner Publikationstätigkeit stellt die Herausgabe der Reihe Corpus Musicae Popularis Austriacae (COMPA) dar.
Als Komponist schuf er ein breites Œuvre mit Bühnen- und Ballettmusik, Kammermusik, Kantaten, Wienerliedern, volksmusikalischen Liedern, Stücken und Bearbeitungen. Durch die Konzeption und Moderation von Radio- und Fernsehsendungen trug Walter Deutsch zudem maßgeblich zur Popularisierung von Volksmusik in Österreich bei.
Aufmacher:
Weiterführende Links:
Gerlinde Haid: Laudatio für Walter Deutsch zur Überreichung der Urkunde für das Ehrendoktorat an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien am 15. März 2011
https://www.mdw.ac.at/ive/?PageId=3780
Werkverzeichnis: https://db.musicaustria.at/node/196027
Nachlass: https://www.onb.ac.at/sammlungen/archiv-des-oesterreichischen-volksliedwerkes/nachlaesse/walter-deutsch





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