„Tirolerei“ in der Schweiz

Jodel-​Inspirationen aus dem Nachbarland

23. März 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Das strophische Jodellied mit Text in den verschiedenen Deutschschweizer Dialekten und wortlosem Jodelteil als Refrain gehört seit je zur Schweizer Jodeltradition – so könnte man meinen. Ist dem wirklich so!? Gibt es dazu Forschungen oder Berichte? Urs Kühne vom Haus der Volksmusik in Altdorf hat sich schlau gemacht und in der Publikation Tirolerei in der Schweiz von Raymond Ammann und Vanessa Maria Carlone interessante Antworten gefunden, die er hier für die »zwiefach«-Leser zusammenfasst.
Text: Urs Kühne Fotos: Rosmarie Berlinger, zvg

Heute weiß kaum jemand mehr, dass die jetzt für die Eidgenossen so typische Form des Jodelns erst anfangs des 19. Jahrhunderts in die Schweiz kam und noch bis ca. in die 1930er-​Jahre verpönt war und Tirolerei geschimpft wurde. Das Aufkommen des wortlosen Jodelns, in der Schweiz Naturjodel, in der Zentralschweiz auch Jutz genannt, ist historisch wie auch musikalisch kaum mehr zu bestimmen. Ebenso der Jauchzer, der bis heute auch eine Signalfunktion hat. Während des Alpsommers singt in katholischen Gebieten der Älpler am Abend den Alpsegen, eine Art psalmodierender Sprechgesang, und bittet damit um göttlichen Schutz für die Alp. Mit dem anschließenden fröhlichen Jauchzer signalisiert er den benachbarten Älplern, dass bei ihm alles in Ordnung ist.

Der Naturjodel wurde lange Zeit vornehmlich in der deutschsprachigen Schweiz gepflegt. Gejodelt wurde spontan beim gemütlichen Beisammensein, wozu ein regional unterschiedliches Repertoire bestand oder auch improvisiert wurde.
In urbanen Regionen galt das Jodeln lange als hinterwäldlerisch und erhielt kaum eine Plattform. In diesen städtischen, bürgerlichen Kreisen war das deutsche Kunstlied der Romantik (ca. Ende 18. bis Mitte 19. Jahrhundert) verbreitet, das mit den originalen Texten gesungen wurde oder dessen Melodien mit Texten zu Schweizer Themen versehen wurden – übrigens ebenfalls in hochdeutscher Sprache.

Tiroler Sängergruppen

In dieser Zeit besuchten Sängergruppen aus Tirol eigens für Auftritte die Schweiz, wobei sie in größeren Ortschaften und Städten ihr Publikum fanden und großen Erfolg hatten. Vermehrt traten sie »kostümiert« auf, wie es etwa in Zeitungen hieß, und trugen ihre vermeintlich traditionelle Landestracht, was beim Publikum großen Gefallen fand.

Eine besonders erfolgreiche Gruppe war die Familie Rainer aus dem Zillertal, die es mit ihren Liedern bis in die USA schaffte. Solche Sängergruppen sangen Lieder, die mit Jodelteilen kombiniert waren und hatten damit anhaltenden Erfolg. Das Resultat: Nach deren Vorbild bildeten sich Schweizer Formationen, die das Liedgut einfach eins zu eins übernahmen oder die Texte oft mehr schlecht als recht in die schweizerdeutschen Dialekte übersetzten. Ebenso wurden in der Vokalisation, also in der Wahl der Vokale und Silben in wortlosen Jodelteilen, Formen übernommen. Gleiches lässt sich auch bezüglich Melodik und Harmonik sowie Mehrstimmigkeit sagen.
Eine Vermittlerfunktion hatte der in der Region Luzern aufgewachsene Josef Felder (1835–1914). Als ausgebildeter Käser arbeitete er in Ammersee und Rosenheim, reiste nach Wien, St. Johann in Tirol und ins Salzburger Land. In diesen Regionen kam er in Kontakt mit den Jodeltraditionen, die er als begeisterter Jodler interessiert aufnahm.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz trat Felder mit Gruppen und als Alleinunterhalter auf und brachte das Gelernte auf die Bühnen der ganzen Schweiz. Einen Bewunderer fand er in Alfons Leonz Gassmann (1876–1962), der Schweizer Volkslieder und Volksmusik sammelte und in Buchform publizierte. Gassmann war Kampfrichter bei Jodlerfesten, wie es im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) heißt. In dieser Funktion sowie als Komponist genoss er in der Szene hohes Ansehen.

Ludwig Rainer (1821–1893) brachte das Jodeln in die Konzertsäle Europas und der USA.

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Historischer Exkurs

Die Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 brachte den (radikal-)liberalen Kräften aus protestantischen, urbanen Gebieten eine Vorherrschaft gegenüber den katholisch-​konservativen ländlichen Regionen. Motiviert zu einem neuen Nationalstolz, welcher auch der Abgrenzung gegenüber dem deutschen Kaiserreich diente, etablierte sich eine Festkultur nach dem Vorbild der Revolutionsfeste, wie sie Jean-​Jacques Rousseau zur Festigung von Traditionen begründet hatte.

Es entstanden die verschiedenen »eidgenössischen« Veranstaltungsformen wie etwa das Eidgenössische Schützenfest (1824), das Eidgenössische Turnfest (1832), das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (1895) usw., die durchaus als Großveranstaltungen bezeichnet werden dürfen. Bei diesen Festen wurden stets auch Traditionen wie das Jodeln, Schwingen, Steinstoßen, das sennische Leben usw. zelebriert. Organisiert von Liberalen des neuen Bundesstaates, waren diese Feste stets auch politische Plattformen, entsprechend gehörten große Festumzüge, flammende patriotische Reden, Fahnenrituale usw. dazu. Als Trägerschaften wurden große Vereine gegründet, die sich strikte Regeln auferlegten, so etwa der Jodlerverband, der 1910 gegründet wurde.
Damals entstand auch das Trachtenwesen mit regional unterschiedlichen Trachten, die schon bald als traditionell galten. In diese Zeit fällt übrigens auch der Bau vieler Denkmäler, die an die ruhmreiche Geschichte der Eidgenossenschaft erinnern sollten. Das wohl bekannteste ist das Löwendenkmal in Luzern.
Mit dem Aufkommen dieser Formen von Patriotismus geriet das aus Tirol übernommene Jodeln zunehmend in die Kritik und wurde abschätzig als Tirolerei bezeichnet. Die Kombination von gesungenem Text und wortlosem Jodel hatte sich jedoch weitgehend etabliert. Für die nach 1830 entstandenen Jodlervereine wurden deshalb eigene, mehrstimmige Jodellieder mit schweizerdeutschen Texten und speziellen Jodelteilen komponiert. So wurden etwa Vokale und Silben, wie sie in der Tirolerei üblich waren, vermieden (z. B. »he, ü, tra, tri, rai«). In ihrer melodischen Gestaltung und dem harmonischen Aufbau lehnten sie sich nach wie vor am romantischen Kunstlied an. Besungen wurden – und werden auch heute noch – ein idealisiertes bäuerliches Leben, sennische Themen, Heimat, Liebe, Sehnsucht. Damit standen die Jodelvereine im Gegensatz zu den Männerchören, deren Lieder patriotische, oft martialische Texte hatten und bezüglich der Stimmen komplexer waren.
Zur Pflege der eigenen Jodeltradition mit Naturjodel und Jodellied sowie zur Abgrenzung gegenüber der Tirolerei wurde 1910 der Eidgenössische Jodlerverband gegründet, zu welchem auch die Alphornbläser und Fahnenschwinger gehören. Bezeichnend sind bis heute die strengen Regeln, was das richtige Jodeln, die Kleidung und den Auftritt betrifft. An Wettbewerben, den sogenannten Jodlerfesten, sind sie für die Bewertung äußerst wichtig.
Im Zweiten Weltkrieg erhielt das Jodeln in der Schweiz wiederum eine politische Komponente; es diente in der sogenannten Geistigen Landesverteidigung der Abgrenzung gegenüber Deutschland. 1943 erschien ein Regelwerk zum korrekten schweizerischen Jodeln.

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Alex Höpperger (1865–1929, links) aus Thaur bei Innsbruck tourte mit verschiedenen Tiroler Sängergruppen durch ganz Europa und machte 1888 sogar eine Tournee durch die USA.

Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg büßte das Jodeln an Bedeutung stark ein und wurde vermehrt als rückständig, hinterwäldlerisch wahrgenommen. Ab ca. den 1980er-​Jahren wurde es mit satirisch-​kabarettistischen Mitteln aufs Korn genommen. Man denke etwa an Loriots Sketch Die Jodelschule (1978), an Fredl Fesls Königsjodler (1985) oder Hubert von Goiserns Koa Hiatamadl (1992). In der Schweiz zum Beispiel mit dem legendären Cabaret Rotstift oder Fredi Lienhard. Dadurch stellte sich auch eine gewisse Entkrampfung ein. Heute erlebt das Jodeln einen Aufschwung – und dies wiederum eher in urbanen Umfeldern, wo es zum Beispiel in Kursen gepflegt wird. Die strengen Formen lösen sich hier zunehmend auf und Neues fließt ein.

Die Hände gehören in die Hosentaschen bzw. unter die Schürze: Quintett des Jodlerklubs Heimelig, Buochs.

Von der Tirolerei inspiriert dürfte auch der Walzer Beim Tiroler Wein von Kasimir Geisser (1899–1943) sein. Der Klarinettist ist hier mit seinem Ensemble Original Urner Ländlerkapelle Echo vom St. Gotthard abgebildet.

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Das Buch zum Thema

Die Jodelgeschichte der letzten zweihundert Jahre lässt erkennen, dass das Jodeln immer schon Teil von Kulturtransferprozessen war. Dadurch ergibt das registerwechselnde Singen in den Alpen ein interessantes und wegweisendes Untersuchungsmaterial, an dem gesellschaftspolitische Änderungen nachvollzogen und die wechselseitigen Auswirkungen zwischen Gesellschaft und Musik untersucht werden können. In der vorliegenden Studie Tirolerei in der Schweiz von Raymond Ammann (Musikethnologe an der Universität Innsbruck und an der Hochschule Luzern) und Vanessa Maria Carlone (Musikwissenschaftlerin und Musikerin), erschienen als Band 6 in der Reihe Schriften zur musikalischen Ethnologie werden die historischen Entwicklungen des Jodelns in der Schweiz und in Tirol sowie ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten miteinander verglichen, wofür schriftliche Quellen, Notationen, Bildquellen, früheste Aufnahmen sowie die Resultate aktueller Feldforschungen ausgewertet werden. Den Aspekten der Authentizität, Nationalidentität und des Kulturtransfers in der Volks- und Popularmusik kommt dabei besondere Bedeutung zu.

www.uvw.at

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