Text: Anastasiya Voytyuk Foto: Irena Brynza
Letzten Winter stand ich in einem Laden in einem kleinen Dorf in der Westukraine, aber nicht, um etwas zu kaufen. Ich wartete, bis keine Kundschaft mehr da war, weil ich etwas Wichtiges tun wollte – ein Lied aufnehmen. Meine Verwandte Lyuba arbeitet als Verkäuferin in dem Laden und singt im örtlichen Kirchenchor, sie hat diverse Volkslieder im Kopf. Schließlich waren wir alleine und ich betätigte die Aufnahmetaste … Lyuba sang Brynila Kosa, ein Lied, das meine Urgroßmutter immer gesungen hat. Später wurde es auf Bühnen im Vereinigten Königreich, in Polen, Südafrika, den USA und in den Frontstädten der Ukraine aufgeführt. Es ist so schön, dass ich immer weniger Lust habe, es zu arrangieren. Oft singe ich es ohne Begleitung, so wie Lyuba es mir beigebracht hat.
Singen trägt Gruppenkraft in sich
Volkslieder sinken allmählich ins Herz, es passiert schnell, unmerklich, aber sie leisten dort gute Arbeit und hinterlassen eine solide Grundlage für das geistige Leben. Nachdem ich angefangen hatte, Volkslieder von Menschen zu erlernen, die wirklich an sie glauben, wurden diese Lieder zu einem wahrhaften Bestandteil meines Lebens. Ich ertappe mich oft beim Singen, wenn ich koche oder ausgehe. Es ist ein Zeichen dafür, dass es mir gut geht. Beim Singen von Volksliedern passiert oft etwas tief in mir. Ich erinnere mich, dass ich am ersten Tag der russischen Invasion im Jahr 2022 die Straße entlangging und ein Kosakenlied summte, das mich aufmunterte.
Warum sind diese Lieder so tiefgründig und leben so lange fort, obwohl sie nicht millionenfach auf Streamingplattformen gespielt werden? Die Antwort liegt in ihrem sozialen Kontext. Die meisten ukrainischen Lieder können nicht allein oder solo gesungen werden, sie benötigen eine Gruppe, um zum Klingen gebracht zu werden. Solche Gesänge werden oft als polyfon bezeichnet (was bedeutet, dass jede Stimme für sich interessant und individuell ist), aber wir haben in der Ukraine auch eine monodische Tradition (einstimmiger Gesang).
Ich lerne traditionelle Lieder bei speziellen Workshops und wenn ich in Dörfer reise, in denen es noch Menschen gibt, die die Tradition weitertragen. Ich würde meine Erfahrung mit dieser Art von Gesang als Gruppeninteraktion beschreiben oder – noch besser – als Gruppenkraft. Wenn man ein Lied solistisch nicht singen kann, lassen sich seine Nuancen und Schönheit nur erfahren, wenn man sie in der Gruppe singt. Es gibt viele Faktoren, die hier eine Rolle spielen, die wichtig und entscheidend sind und auf der Ebene von sehr tiefer Aufmerksamkeit, Vorstellungskraft und Glauben wirken. Du führst und wirst geführt, singst und hörst, fängst ein und wirst eingefangen, badest in Klang und übergießt die Mitsingenden mit Klangwellen, hältst deine eigene Linie und hältst dich an anderen fest. Polyfonie ist eine Form der Multifunktionalität, die uns viele mentale Prozesse gleichzeitig lehrt. Sie ist auch eine emotionale Erfahrung und verschafft sehr oft emotionale Erleichterung.
Hunderttausende Lieder
Unerwartet ist der Krieg zu einem Grund geworden, sich für traditionelle Musik zu interessieren. Ich denke, das hat damit zu tun, dass wir Ukrainerinnen und Ukrainer auf der Suche nach unserer Identität sind – mit so vielen Tausenden von ukrainischen Liedern aus allen Regionen der Ukraine haben wir einen gewichtigen Grund zu sagen, dass wir eine unabhängige Nation sind. Insgesamt wird die Zahl ukrainischer Volkslieder auf über 350.000 geschätzt, etwa 11.000 von ihnen sind offiziell als UNESCO-Erbe geschützt, und alle sind in ukrainischer Sprache. Diese Lieder lassen sich in viele Gattungen einteilen, zum Beispiel in Lieder für Erwachsene und Kinder, rituelle und nicht rituelle Lieder, Lieder zu regionalen Feiertagen und solche, die saisonale Arbeiten besingen (etwa die Getreideernte oder das Pflücken von Beeren und Früchten). Es gibt auch Weihnachts-, Neujahrs-, Hochzeits-, Begräbnis- und rituelle Tanzlieder. Ein anderes Genre, das mir manchmal am populärsten zu sein scheint, sind Liebeslieder.
Das alte Lied Vom Anfang der Zeit (Izprezhydy Vika) zum Beispiel erzählt die Geschichte der Erschaffung der Welt, und es könnte durchaus christliche Ursprünge haben, da die religiöse Figur des heiligen Petrus darin auftaucht. Das Lied erzählt, dass es einst keinen Himmel und keine Erde gab, sondern nur ein blaues Meer, in dem Feuer brannten und Heilige saßen, die sich berieten und beschlossen, Petrus auf den Grund des Meeres zu schicken, um etwas Sand zu holen und ihn auf der ganzen Welt auszusäen, damit Blumen und Sterne geschaffen würden. Es ist eine wunderbare Geschichte, die sehr schön vermittelt, wie kosmisch und romantisch die Menschen in der Ukraine einst über die Anfänge der Welt dachten. Das Lied stammt aus der Region Kiew.
Lieder als Nachweis für die Identität
Wenn man die Landkarte der Ukraine aus der Perspektive ethnografischer Verteilung betrachtet, erkennt man, dass das Land aus vielen Regionen besteht. Natürlich gibt es viele Varianten der Einteilung, da verschiedene Gelehrte unterschiedliche Theorien entwickelt haben. Manche teilen das Land geografisch ein, andere stützen sich auf sprachliche Dialekte. Am wichtigsten ist jedoch, dass in all diesen Regionen Ukrainisch gesprochen und gesungen wurde. Es gibt viele ukrainische Lieder aus den heute besetzten Regionen Donezk und Luhansk, aus Podlachien (heute Teil Polens) und aus dem Kuban-Gebiet (heute Teil Russlands). Wenn es also in einer Region der Ukraine viele Menschen gibt, die russisch sprechen, bedeutet das nicht, dass diese Region zu Russland gehört, sondern dass es eine brutalere Kolonisierungspolitik und Russifizierung gab. Ukrainern und Ukrainerinnen wurde verboten, Ukrainisch zu sprechen, und ukrainische Kultur wurde rein physisch zerstört: Bücher wurden verbrannt, Menschen getötet und die Kultur in jeglicher Hinsicht verboten. Deshalb ist das Singen heute so wichtig als Beweis und Mittel für kulturelle Wiederbelebung.
Singen als Hoffnungsschimmer
Viele junge Menschen in der Ukraine interessieren sich heute wieder für den traditionellen Gesang, was mir große Hoffnung macht, dass unsere Kultur weiterleben wird. Ich hoffe wirklich, dass wir durchhalten können und unser Land mit Hilfe der Welt bewahren werden. In den schwierigsten Momenten wird ein Volkslied zum Schutz, zur Ermutigung, gibt Raum für Hoffnung oder nimmt einen in den Arm, um weinen zu können. Ich wünsche mir und glaube wirklich, dass das ukrainische Lied eine große Zukunft hat, dass es an Orten gehört und erforscht wird, an denen es noch nie gehört wurde.
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