Tracht ist mehr als traditionelle Kleidung – sie ist Ausdruck von Identität, Kultur und sozialer Zugehörigkeit. Sie war ein visueller Code, der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede deutlich machte. Zugleich spiegelte sie eine tiefe Verbindung zur Tradition und den regionalen Eigenheiten wider. In den ländlichen Regionen Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz erlebte die Tracht vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein mehrere Umbrüche. Diese waren geprägt von den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen – von der Französischen Revolution bis zu den Weltkriegen. Im frühen 19. Jahrhundert, insbesondere zu Beginn der 1800er-Jahre, spiegelte die Tracht in den ländlichen Regionen Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz das ständische Gesellschaftsgefüge wider.
Text: Wulf Wager Fotos: Wulf Wager, Archiv Wager, Linda Broström / The Royal Court of Sweden
In einer Gesellschaft, die stark durch die feudalen Strukturen geprägt war, hatte Kleidung eine strikte funktionale und symbolische Bedeutung. Der Adel trug prächtige, teure Gewänder, die den Reichtum und die soziale Stellung symbolisierten und sich an den Zeitmoden orientierten. Diese adlige Tracht war im Wesentlichen eine urbane Erscheinung und stand in starkem Gegensatz zur Kleidung der bäuerlichen Bevölkerung. Die bäuerliche Tracht in dieser Zeit war oft sehr funktional und auf den Arbeitsalltag ausgelegt. Dennoch gab es auch hier klare Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen. Ein reicher Bauer konnte sich eine Tracht leisten, die sich durch aufwendigere Stoffe und Verzierungen von der einfachen Kleidung eines landärmeren Bauern oder Taglöhners abhob. Aber die Entwicklung der Kleidung beruhte immer auf den gleichen Motivationen: Wärmeschutz, Schönheitssinn, Zurschaustellung des eigenen Wohlstands und Kopieren der höherenStände.
Der Begriff Tracht bezeichnet die Kleidung einer bestimmten Ethnie, sozialen, Religions- oder Berufsgruppe. Man unterscheidet grob zwischen Amtstrachten, Berufstrachten, Zunfttrachten, Ordenstrachten und Bürger- und Volkstrachten. Von letzteren ist hier die Rede. In Süddeutschland – Baden, Württemberg, Bayern – und in Österreich, Tirol, Südtirol und der Schweiz hat die Tracht eine reiche Geschichte. Sie unterlag den Einflüssen aus den Städten, den Nachbarregionen, der verfügbaren Handelsware, den Einflüssen aus der höfischen Mode und des Militärs sowie Kleidervorschriften der jeweiligen Herrscher. Erste bäuerliche Trachten entstanden Ende des 15. Jahrhunderts. Heute gilt die höchste Ausformung der Festtagstracht als Idealbild einer Volkstracht. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff? Wie hat sich Tracht im Laufe der Jahrhunderte entwickelt? Dieser Artikel stellt die Entwicklung der Tracht vom 18. Jahrhundert bis heute dar und beleuchtet ihre Funktion als sozialer Indikator sowie ihren Wandel durch politische und gesellschaftliche Umwälzungen.
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Die Tracht um 1800: Symbol der Ständeordnung
Vom 17. bis in das frühe 19. Jahrhundert war die Tracht stark von der ständischen Gesellschaftsordnung geprägt. Die ständischen Trachten unterschieden ganz grob nach Adel, Klerus, Bürgertum und Bauernschaft. Während der Adel auf prunkvolle Stoffe und verzierte Accessoires setzte, trug das Bürgertum schlichtere, dennoch hochwertige Kleidung. Die Bauernkleidung war funktional, oft selbstgemacht oder zumindest aus Stoffen und Zutaten aus dem Land, regional unterschiedlich und spiegelte vor allem den sozialen Status wider. Amtstrachten, getragen von Beamten oder Geistlichen, dienten der Repräsentation und Autorität. Die Tracht der Handwerker und Bauern variierte von Region zu Region, manchmal sogar von Ort zu Ort in Details, oft beeinflusst durch Klima, wirtschaftliche Bedingungen und lokale Traditionen, sowie durch die Kleider(ver)ordnungen der regionalen Herrscher.
»… ein feines Geflecht aus Symbolen … «
Tracht als sozialer Indikator
Die Tracht der bäuerlichen Bevölkerung war ein feines Geflecht aus Symbolen, gewissermaßen ein sozialer Code. Obwohl in seiner Grundausstattung über Jahrhunderte verordnet, entwickelte sich eine oft nur regional oder lokal verständliche Gestaltungs- und Ausdrucksnorm für sozialen Stand: Alter, Familienstand, Beruf und Trauerstatus sowie Religionszugehörigkeit ließen sich am Kleidungsverhalten ablesen. Junge ledige Frauen trugen oft leuchtende Farben und reich verzierte Mieder und unbedeckte Haare, verheiratete Frauen dezentere Töne und Hauben. Das »unter die Haube kommen«, war wörtlich zu nehmen. Trauernde kleideten sich in Schwarz oder dunklen Farben. Die Form der Haube oder männlichen Kopfbedeckung konnten auf den Familienstand hinweisen. Ein Beispiel ist die Bollenhuttracht im Schwarzwald, bei der rote Wollrosen auf dem gekalkten Strohhut auf die Unverheiratetheit hinwiesen, während schwarze Bollen den Ehestand signalisierten. In Echterdingen bei Stuttgart trugen die ledigen Männer Pelzmützen, sogenannte Brämkappen, die verheirateten den schwäbischen Dreispitz.
Die Kleidung lieferte dem kundigen Betrachter eine Vielzahl von Informationen. Sie zeigte deutlich an:
- aus welcher Region die Tracht stammt,
- aus welchem Dorf der Träger oder die Trägerin stammt,
- deren soziale Stellung innerhalb der Dorfgemeinschaft,
- den Personenstand: Schürze, Kopfbedeckung, Strumpfbänder, Brusttuch, Mieder, Ärmel (Bsp. rot: Mädchen, unverheiratete junge Frauen; grün: verheiratete junge Frauen; violett: verheiratete ältere Frauen; schwarz mit dezentem weiß: Frauen in Trauer, Witwen)
- die Trauerstufe (Voll-, Halb-, Vierteltrauer, Freudenzeit) sowie
- den Anlass (Abendmahl, sonntäglicher Kirchgang, gewöhnlicher Sonntag, Hochzeit, Kommunion, Konfirmation usw.)
Gerade auch Trauerkleidung war stark geregelt: In den ersten Wochen der Trauerzeit nach dem Tod eines Familienmitglieds war die Kleidung besonders schlicht und ohne auffällige Verzierungen. Nach und nach wurden dann wieder farbige Elemente in die Tracht aufgenommen, was den Fortschritt im Trauerprozess symbolisierte.
Kleiderordnungen und Vorschriften
Die Obrigkeit regulierte seit dem 17. Jahrhundert die Kleidung durch sogenannte Kleider- oder Polizeyordnungen. Diese sollten den Standesunterschied sichern und die Verschwendungssucht eindämmen. Weitreichend ist die Kleiderverordnung, die 1530 auf dem Reichstag in Augsburg verkündet wurde. Sie schrieb dem hohen und niederen Adel, Bürgern und Bauern bis in die geringste Kleinigkeit vor, was sie selbst, ihre Frauen, Töchter, Mägde, Knechte Handwerker und Gesellen an Stoffen und Zutaten verwenden durften. Beispielsweise verbot eine bayerische Kleiderordnung von 1805 der Landbevölkerung das Tragen von Seide und Goldstickereien. In Württemberg gab es 1549 die erste Kleiderordnung. Die umfassendste erließ Herzog Eberhard Ludwig 1712. Hier teilte er die Stände in neun Klassen ein. Die niedrigste, 9. Klasse war die der »gemeine Bauersleuthe, welche keine Tücher, wo die Ehl über 12 Batzen kommt, tragen sollen«. Die mussten sich ausschließlich mit inländischen Stoffen für ihr Häs, so der schwäbische Begriff für Kleidung, begnügen. »Allerhand schlechte und geringe Zeug. Schürz von weißer und schwarzer Leinwand jedoch von geringem Wert.«
Solche Vorschriften dienten auch der wirtschaftlichen Kontrolle, da lokal erzeugte Stoffe bevorzugt wurden und das Geld im Land blieb. In Oberschwaben gab es solche Kleiderordnungen – da vorderösterreichisch – nicht. Dennoch versuchten einzelne Herrschaften durchaus auch, das Kleidungsverhalten ihrer Untertanen zu steuern – Nikolaus Betscher etwa, Abt des Reichsstifts Rot an der Rot, erließ 1796 ein Verbot an alle ledigen Männer, »Seidene Strümpf von was immer für farben zu tragen«, während alle ledigen Weibspersohnen beispielsweise auf »Hauben von Gold und Silber gewürkten oder gestiktem Zeuge und Schnier Müder mit Gold oder Silber-Bordten« verzichten sollten. In Tirol legte man zudem Wert darauf, dass die Tracht den katholischen Werten entsprach und keine als unbescheiden geltenden Moden aus dem Ausland übernahm. Auch im pietistisch geprägten Württemberg war die Kleiderpracht untersagt.
Tracht als politisches Instrument
Mit der aufkommenden Romantisierung und dem Drang nach einer deutschen Einheitsidentifikation nach der Französischen Revolution und der damit verbundenen Auflösung der Kleiderverordnungen wuchs das Interesse der Fürsten daran, die Tracht als Symbol für nationale Zusammengehörigkeit einzusetzen. Durch Napoeleons europäische Neuordnung entstanden größere Fürstentümer. Württemberg beispielsweise verdoppelte sein Staatsgebiet durch Napoleons Gnaden mit der Einverleibung von Teilen Vorderösterreichs in Oberschwabens nahezu. König Wilhelm I. von Württemberg musste also ein Zusammengehörigkeitsgefühl für das ganze Königreich Württemberg inklusive Neu-Württemberg hinbekommen. So veranstaltete er zum Beispiel zu seinem 25-jährigen Regierungsjubiläum 1841 einen großen Festzug mit 10.000 Teilnehmern, zu dem aufgefordert wurde, dass sich die Bewohner aus allen Oberämtern in ihren alten Trachten zeigen sollten. Die Volkskultur sollte zur Schau gestellt werden, um die Einheit des Volkes zu demonstrieren.
Auch in Österreich diente die Tracht hundert Jahre später der politischen Agitation. Jenseits einer touristischen Vermarktung wurde organisierte Volkskultur in Szene gesetzt. Zum Katholikentag 1933 in Wien, zugleich staatliches Gedenken an die Türkenbefreiung (1683), konnten Tiroler in Tracht zu stark ermäßigten Preisen anreisen. Und bei Kundgebungen des mit dem austrofaschistischen Ständestaat 1933/34 etablierten autoritären Herrschaftssystems marschierten Heimwehrregimenter mit Schützen und Musikkapellen in Tracht. Als 1938 ein weiterer politischer Umbruch folgte und die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, wussten auch sie Volkskultur und Tracht ideologisch aufzuladen und in ihrem Sinne zu nutzen.
Auswirkungen der französischen Revolution und der Industrialisierung
Während bis zur Französischen Revolution (1789) und deren Auswirkungen auf ganz Europa Kleidungsvorschriften der jeweiligen Herrscherhäuser bestanden, nahmen durch die Rücknahme dieser Vorschriften, die jedem Stand klare Vorgaben zum Kleidungsverhalten vorschrieben, die Einflussnahmen durch die verschiedensten Institutionen auf die Tracht zu und bemächtigten sich derer. Seit dem frühen 19. Jahrhundert versuchten Schriftsteller, Wissenschaftler, Fürsten und deren Beamte das Bild der Volkskultur nach ästhetischen, emotionalen und politischen Bedürfnissen des bürgerlichen Publikums zurecht zu biegen und als Grundlage eines Nationalcharakters zu definieren, während die bäuerliche Bevölkerung sich der Zwangsjacke der Kleidervorschriften entledigte und die Trachten mehr und mehr ablegte und sie durch städtische Mode ersetzte.
Die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, die mit der Entwicklung der Textilindustrie und der Entstehung von Fabriken in den Städten einherging, führte zu einer erheblichen Veränderung der Trachtenkultur. Maschinen konnten nun schneller und günstiger Textilien herstellen, was die Mode für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich machte. Gleichzeitig führte die Urbanisierung zu einer Vereinheitlichung der Kleidung. Der ländliche Charakter der Trachten ging zunehmend verloren, da mehr Menschen in die Städte zogen und die traditionelle Tracht durch moderne, industriell produzierte Kleidung ersetzt wurde.
In dieser Zeit begannen sich die gesellschaftlichen Unterschiede weniger in der Kleidung als in der Arbeitswelt und der Wohnungskultur zu manifestieren. Die bäuerliche Tracht wurde zunehmend als »altmodisch« und »folkloristisch« angesehen, während die bürgerliche Mode die Bühne betrat.
Demokratische Ideale und die Verbreitung industriell gefertigter Kleidung führten dazu, dass regionale Trachten zunehmend von städtischer Mode verdrängt wurden. Die industrielle Revolution brachte nicht nur neue Produktionsmethoden, sondern auch neue Stoffe wie Baumwolle und maschinell gewebte Textilien. Dadurch wurden bestimmte Elemente der Tracht erschwinglicher, während andere, handgefertigte Details wie Stickereien und Zierrat seltener wurden. Die Tracht wandelte sich von Alltags- zur Festtagskleidung, da industrielle Mode die Funktionalität übernahm.
Die Abschaffung der Kleiderverordnungen führte einerseits dazu, dass sich die Bauern freier und bürgerlicher kleiden konnten. Andererseits begann Anfang des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung in der Tracht, bei der besondere Trachtenteile deutlich hervorgehoben wurden und sich zum Markenzeichen einer Region oder eines Ortes entwickelten. Beispielsweise waren die Wollrosen auf dem Schwarzwälder Bollenhut Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich kleiner als heute. Mitte des 19. Jahrhunderts wuchsen sie peu á peu an und wurden so zum bis heute wirkenden Marketingsymbol des Schwarzwaldes. Dazu führte auch, dass sich die badische Großherzogin in dieser Tracht zeigte. Ein weiteres Beispiel für diese Auswüchse ist die Brautkrone aus dem Schwarzwälder Ort St. Georgen zu benennen, die im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast gigantische Auswüchse erfuhr und mit 3 kg die größte Brautkrone Europas geworden ist.
Badische Herzogin in Bollenhuttracht
Mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Modernisierung, Mobilität, Verstädterung und auch Verarmung entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Staaten Europas zivilisationskritische Bewegungen. Sie idealisierten die Natur und romantisierten und verherrlichten das Landleben, genauer: alles Bäuerliche. Das scheinbar war im Verschwinden, denn die Bauern legten mehr und mehr die alte Tracht ab. Gleichzeitig entstand eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte, was Ende des 19. Jahrhunderts zur Gründung der ersten Trachtenerhaltungsvereine in Bayern und Baden führte. Diese Vereine setzten sich dafür ein, die authentischen Merkmale der Tracht zu bewahren.
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Der badische Pfarrer und Volkschriftsteller Heinrich Hansjakob (1837–1916) initiierte die Gründung von Volkstrachtenvereinen in Gutach und Umgebung und war selbst Vorsitzender des Freiburger Trachtenvereins. 1892 veröffentlichte er die Schrift Unsere Volkstrachten, die in den 1890er-Jahren vier Auflagen erlebte. Da wo die Tracht noch existierte, wollte er durch sein »Büchlein zu Hilfe kommen gegen den eindringenden Modeteufel«. Bäuerlicher Stolz, Sparsamkeit, Konservatismus, Religiosität, Kunst und Poesie führt er als Gründe für die Trachtenerhaltung an. Sein Freund, der Maler Wilhelm Hasemann (1850–1913) unterstützte ihn in seiner Denke und schuf unzählige Trachtenbilder des mittleren Schwarzwaldes. Seine Werke wurden in Zeitschriften und auf Postkarten veröffentlicht und sorgten so für ein reges Interesse bei Sommerfrischlern.
Zeitgleich ermächtigen sich Kunstmaler der Tracht des Gutachtals und verbreiteten so die »malerische« Bollenhuttracht in ganz Deutschland. Dazu trug auch bei, dass sich die aus Berlin stammende badische Großherzogin Luise 1860 bei einem Besuch im Schwarzwald in der Gutacher Tracht zeigte. Die Erbgroßherzogin von Baden, Hilda von Nassau hingegen kleidete sich anlässlich ihrer Hochzeit in Miesbacher Tracht: »Am 20. September des vorigen Jahres [1866] wurde auf dem Schlosse Hohenburg bei Lenggries [Oberbayern] eine Hochzeit gefeiert, welche in der ländlichen Bevölkerung eine besonders lebhafte Freude hervorrief. Die junge Braut war Hilda, die am 5. November 1864 geborene Tochter des Herzogs von Nassau, welche sich auf dem väterlichen Schlosse mit dem Erbgroßherzog Friedrich Wilhelm von Baden vermählte. Durch ihr heiteres liebenswürdiges Wesen hatte sich die junge Fürstin in den ländlichen Kreisen eine aufrichtige Liebe und Verehrung erworben, und die ländliche Jugend von Lenggries, Miesbach, Tölz erzählt es mit Stolz, daß die jetzige Erbgroßherzogin mit ihren Hofdamen noch vor Kurzem in dem kleidsamen Kostüm der Miesbacher und Tölzer Landmädchen sich froh an ihrem Sang und Tanz betheiligte.«
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand der Begriff Tracht ganz allgemein für Bekleidung. Seither wurden ländlich-bäuerliche Festtagskleider als Tracht bezeichnet. Während diese Kleider auf dem Land allmählich verschwanden, begannen wohlhabende (Bildungs-)Bürger in den Städten, diese Volkstrachten zu schätzen, zu sammeln und zu bestimmten Anlässen auch zu tragen. Auch versuchte man Anfang des 19. Jahrhunderts eine Deutsche Tracht in Abgrenzung an das modedominierende Frankreich zu schaffen. Später stattete man sich für Trachtenumzüge und -feste im Kostümverleih aus, ließ sich dann auch gerne malen oder fotografieren. Diese Kleidungsstücke waren demnach kein selbstverständliches Alltagsgewand, sondern etwas Besonderes, Exotisches.
»Tracht war niemals Uniform.«
Gründung von Trachtenerhaltungsvereinen
Auch in der Betzinger Trachtengegend bei Reutlingen in Württemberg siedelte sich aus dem nahen Universitätsstädtchen Tübingen eine Malerkolonie an und sorgte für die Popularität der Betzinger Tracht, die sich in einer späten barocken Form erhalten hat. Auch der Tübinger Fotograf Paul Sinner (1838–1925) dokumentierte die Betzinger Trachten in vielen Fotografien. In seinem Atelier konnte man sich in dieser schmucken Tracht ablichten lassen. Nur durch diese Aktivitäten konnten sich die Wechselformen der Betzinger Tracht erhalten. In Württemberg hob eine Reihe Stuttgarter Honoratioren schließlich 1902 den Verein zur Erhaltung der Volkstrachten in Schwaben aus der Taufe. Das entsprach dem Zeitgeist und folgte den Gründungen in Nachbarländern: In Baden mühte sich bereits der Landesverein zur Erhaltung der Landestrachten nach Kräften, 1897 hatte sich in Gießen der Verein für Erhaltung oberhessischer weiblicher Volkstrachten gegründet, im Jahr 1900 war der Elsässische Volkstrachtenverein gefolgt.
In Bayern hat König Maximilian II. 1853 mit dem sogenannten Erlass zur Förderung der Nationaltrachten den Weg für die heutige Trachtenbewegung geebnet. 30 Jahre später, 1883 wurde der erste Trachtenverein als Verein zur Erhaltung der Volkstracht im Leizachtale in Bayrischzell aus der Taufe gehoben. Dies markiert den Beginn organisierter Trachtenpflege in Bayern. In den Folgejahren gab es immer weitere Zusammenschlüsse von Trachtenvereinen zu Gau- und Landesverbänden. Bis heute haben sich Trachtenvereine als fester Bestandteil der bayerischen Kulturszene etabliert: Der Bayerische Trachtenverband e.V. mit rund 800 Vereinen in 22 Gauen und ca. 165.000 Mitgliedern ist der größte Verband der organisierten Trachtenpflege. Mit den Gründungen von Trachtenvereinen hat die Tracht ein zweites Leben begonnen, das geprägt ist von Ordnung und normierter Uniformität. Wobei die Tracht niemals Uniform war. Auch das Verhalten wird geregelt, wenn man in Tracht gekleidet ist: Der Landesverband der Heimat- und Trachtenverbände Baden-Württemberg hat seinen Mitgliedern in Trachtenleitlinien 2009 klare Regeln für Auftritte in der Öffentlichkeit vorgegeben – Make-up solle sparsam verwendet werden, farbiger Nagellack verbiete sich von selbst; Kaugummis dürfen nicht gekaut und Zigaretten nicht geraucht werden.
Für Bayern spielt die Miesbacher Tracht eine bedeutende Rolle. Dabei ist die Miesbacher Tracht kein historisches Gewand im wissenschaftlichen Sinne. Sie hat sich erst um 1900 mit der Verbreitung der Trachtenvereine aus verschiedenen historischen Strömungen im bayerischen Oberland um Miesbach herausgebildet. Längst ist die Miesbacher Tracht zu einem weltweiten Symbol für Bayern, aber auch Deutschland geworden. Die Miesbacher Tracht ist heute in ganz Bayern zu Hause. Im Oberland und in München und Umgebung ist sie am stärksten vertreten. Waren bis 1950 die Trachten innerhalb eines Vereins noch in groben Zügen verschieden, setzte mit dem Wirtschaftswachstum in nahezu allen Trachtenvereinen nicht nur in Bayern, sondern in ganz Süddeutschland eine Art Uniformierung ein. Zuvor mussten viele Teile der Tracht noch selbst angefertigt werden, Stangenware war nicht verfügbar. Viele Vereine haben so im Laufe der Jahre andere Details der Miesbacher Tracht herausgearbeitet und geben diese innerhalb ihrer Gruppe vor. Mittlerweile ist die Miesbacher Tracht bei deutschen Vereinen in den USA aber auch in anderen deutschen Bundesländern bei Bayernvereinen weit verbreitet.
Tracht und Trachtenerneuerung in der NS-Zeit
In der NS-Zeit wurde die Tracht von der nationalsozialistischen Ideologie instrumentalisiert. Sie galt als Symbol des Deutschen Volkstums und wurde im Kontext der Blut-und-Boden-Ideologie propagiert. Gertrud Pesendorfer (1895–1982), eine bedeutende Figur der Trachtenerneuerung, widmete sich insbesondere in Tirol der Vereinfachung und Standardisierung der Tracht. Ihre Arbeit begann bereits vor 1938 und setzte sich nach 1945 fort. Pesendorfer versuchte, die Tracht von überladenen Verzierungen zu »befreien« und kehrte zu schlichten Formen und regionaltypischen Materialien zurück. Ihr Ansatz wurde in der NS-Zeit gefördert, da er mit der Ideologie von Ursprünglichkeit und Bodenständigkeit harmonierte. Gleichzeitig wurde die Tracht politisch vereinnahmt, indem sie als Ausdruck »rassischer Reinheit« interpretiert wurde.
Die Mittelstelle Deutsche Tracht mit Pesendorfer als Reichsbeauftragter für Trachtenarbeit an der Spitze, hatte zeitweise 45 Mitarbeiterinnen im Tiroler Volkskundemuseum, dessen Leiterin Pesendorfer ebenfalls war. Sie wurde als Dienststelle der NS Frauenschaft im März 1939 eingerichtet. Die sperrige Wortschöpfung der NS-Bürokratie sollte auf ihre vermittelnde Tätigkeit zwischen sämtlichen Akteuren des Trachtenwesens hindeuten. Hauptaufgabe der neuen Trachtenbehörde war, in den Gauen des Reichs und in den sogenannten auslandsdeutschen Gebieten die Trachtenbestände zu dokumentieren und an der Trachtenerneuerung zu arbeiten. Der zweite Schwerpunkt der Mittelstelle war, die Tätigkeit verschiedener, teils konkurrierender Partei- und Volkskunde-Organisationen zu vereinheitlichen und zu kontrollieren sowie die Trachtenaktivitäten von Hitlerjugend(HJ) , Bund Deutscher Mädchen (BDM) und Reichsnährstand, der Organisation der Agrarwirtschaft und Politik, zu koordinieren. Die entstehenden Vereine und Organisationen versammelten vor allem Mitglieder aus städtisch-bürgerlichen Milieus. Sie propagierten Ortsbild und Landschaftspflege, Denkmal und Naturschutz, insbesondere Zeugnisse lokaler Geschichte und bäuerlicher Kultur und Lebensweise sollten bewahrt werden. In Österreich und Deutschland kam zu dieser Programmatik eine nationalistische Komponente hinzu, komprimiert im Begriff Heimat (oder auch Volkstum). Erklärt wird dieses Spezifikum mit den konkreten politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, vor allem mit der verspäteten Nationalisierung des deutschsprachigen Raumes. Deutschland bestand als Nationalstaat ja erst seit 1871.
Nach 1945 distanzierte sich Pesendorfer von der nationalsozialistischen Ideologie, setzte ihre Arbeit jedoch fort. Ihre Konzepte prägen die Tiroler Tracht bis heute, wobei ihre Methoden und die ideologische Vereinnahmung kritisch diskutiert werden.
Tracht im 20. Jahrhundert
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1945, begann sich das gesellschaftliche Klima zu ändern. Die schwierigen Jahre des Krieges und die beginnende Nachkriegszeit führten zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität. In den Jahrzehnten nach dem Krieg gab es in vielen Teilen Süddeutschlands und Österreichs eine gewisse Wiederbelebung der Trachtenkultur. Dies war vor allem in ländlichen Gebieten der Fall, wo die Tracht als kulturelles Erbe und als Symbol der regionalen Zugehörigkeit eine neue Bedeutung erlangte.
Eine Trachtenrenaissance in den 1950er- und 1960er-Jahren war eine Reaktion auf den Verlust traditioneller Werte und das zunehmende Verlangen nach einer klaren kulturellen Identität in einer sich schnell modernisierenden Welt. Die Konservativen zogen die alte Tracht in Verklärung der Vergangenheit an, die 68er-Generation zog sich lieber aus und feierte die sexuelle Befreiung. Besonders in Regionen wie Bayern und Tirol fand die Tracht wieder vermehrt Platz bei Festen, wie dem Oktoberfest in München oder bei folkloristischen Ereignissen. Während diese Rückbesinnung auf die Tracht zunächst als konservativ und rückwärtsgewandt wahrgenommen wurde, konnte sie sich später als Teil der regionalen Folklore und als touristisches Gut etablieren. Die Heimatfilmwelle tat ein Übriges. Die Operettenverfilmung Schwarzwaldmädel mit Sonja Ziemann in der Hauptrolle im Jahr 1950 trug noch mehr zur Popularität der Bollenhuttracht bei, die nur in drei württembergischen Dörfern des ehemaligen Amtes Hornberg getragen wurde und wird, durch ihre Popularität aber zum Symbol des ganzen Schwarzwalds wurde.
Miesbacher Gebirgstracht
Trachtenvereine und ihre Bedeutung
Die Trachtenerhaltungsvereine spielten eine zentrale Rolle bei der Bewahrung und Wiederbelebung der Trachtenkultur. Sie organisierten Feste, dokumentierten traditionelle Schnitte und Materialien und setzten sich für die regionale Identität ein. Besonders in Bayern und Baden-Württemberg entstand ein starkes Netz solcher Vereine, das bis heute aktiv ist. Beispiele sind der Bayerische Trachtenverband und der Landesverband der Heimat- und Trachtenverbände Baden-Württemberg, sowie der Bund Heimat und Volksleben als größter deutscher Trachtenverband. Diese Organisationen führen Trachtenfeste durch, bieten Nähkurse an und dokumentieren die Geschichte der Trachten. Alljährlich bestimmt der Deutsche Trachtenverband die Tracht des Jahres und führt ein Deutsches Trachtenfest als öffentlichkeitswirksames Event durch.
Aber es gibt noch einige wenige Regionen, in denen auch heute noch Menschen die Tracht täglich tragen, etwa in wenigen Orten auf der Schwäbischen Alb und im Schwarzwald einzelne Bäuerinnen. Auch in Echterdingen bei Stuttgart wurde die Tracht noch bis Ende der 1970er-Jahre von zwei Männern getragen, die keine andere Kleidung hatten. Im Alltag spielen sie ansonsten eine völlig untergeordnete Rolle. Historische Trachten werden heute vor allem zu festlichen Anlässen wie Kirchweihen, Hochzeiten oder eben bei Trachtenumzügen getragen. Auch und vor allem im Tourismus wird die Tracht verstärkt genutzt, um die regionale Authentizität hervorzuheben und Gästen und Touristen echtes Brauchtum vorzuführen.
Heute versteht man unter Tracht ein Ensemble an Kleidungsstücken, das bestimmten Richtlinien entspricht. Es gilt als kulturelle Ausdrucksform einer – meist geografisch verorteten – Gruppe. Der Tracht werden lange Dauer und Unveränderlichkeit zugeschrieben, von Tradition ist die Rede. Über Bekleidung entsteht soziale Eindeutigkeit und Zusammengehörigkeit. Man denke nur an die Einheitskleidung von Fußballfans und die damit verbundene Identifizierung mit ihrem Verein – auch eine Art Tracht. Oder an die Partytrachten auf den großen Volksfesten. Das mag – je nachdem – Wohlgefühle hervorrufen oder als Zwangsstruktur wahrgenommen werden.
»Trachten waren schon immer in Bewegung.«
Trachtenmode und Kommerzialisierung
Die moderne Trachtenmode – Dirndl und Lederhosen im Stil des 21. Jahrhunderts – unterscheidet sich stark von den historischen Originalen. Besonders bei großen Volksfesten wie dem Münchner Oktoberfest oder dem Cannstatter Volksfest tragen viele, vor allem junge Menschen industriell gefertigte Kleidungsstücke, ohne Bezug zur regionalen Tradition. Diese Entwicklung wird von traditionellen Trachtenverbänden kritisch gesehen, die auf Authentizität und historische Genauigkeit Wert legen. Viele der heute gängigen Dirndl und Lederhosen stammen aus asiatischer Massenproduktion, was zu einem Verlust regionaler Identität führt. Und dennoch erzeugt sie gerade das – regionale Identität. Das ist ein Trend zur Rückbesinnung auf heimische Traditionen in einer globalisierten Welt, wenn auch ohne Grundlage der Tradition. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist eine Dirndlmode beliebt und partytauglich geworden, die auch Formen aufweist, die die Trachtenerneuerung als unzeitgemäß abgelehnt hatte. Der Gegensatz von Mode und Tracht scheint sich in der Praxis weitgehend aufgelöst zu haben.
Ganz anders in Skandinavien. Hier sind die lokalen Trachten fest in der Gesellschaft etabliert. An den Nationalfeiertagen und besonderen Festen zeigen sich in Schweden und Norwegen nicht nur die Skandinavier in ihrer Lokaltracht. Auch die Mitglieder der Königshäuser tragen an diesen Festtagen die alte bäuerliche Tracht. Ein Trend, den die Wittelsbacher und das habsburgische Herrscherhaus schon im frühen 19. Jahrhundert ausgelöst haben.
Fazit: Die Tracht als soziales und kulturelles Phänomen
Im Rückblick auf die Entwicklung der Tracht in Süddeutschland und Österreich von 1800 bis ins 20. Jahrhundert zeigt sich, wie eng die Tracht mit den sozialen und politischen Veränderungen der Zeit verknüpft war. Im 19. Jahrhundert war die Tracht ein klares Symbol für soziale Zugehörigkeit, Beruf, Alter und Status. Die bäuerliche Tracht war nicht nur ein praktisches Kleidungsstück, sondern ein visuelles System zur Kennzeichnung der sozialen Ordnung. In Zeiten politischer Umwälzungen, wie der Französischen Revolution und der Industrialisierung, wurde die Tracht zunehmend als Zeichen der Tradition und als Widerstand gegen die fortschreitende Modernisierung und Industrialisierung verstanden.
Der Erste und Zweite Weltkrieg hatten jedoch eine disruptive Wirkung auf die Trachtenkultur. Die Kriegsjahre führten zu einem pragmatischen Umgang mit Kleidung und einem Verlust der traditionellen Bedeutungen, während die Nachkriegszeit in den 1950er-Jahren eine Rückbesinnung auf die Tracht als kulturelles Erbe und Symbol der regionalen Identität brachte.
Heute steht die Tracht nicht nur für die Bewahrung von Traditionen, sondern auch für ein vielfältiges kulturelles Erbe, das in modernen Zeiten eine neue Bedeutung gefunden hat – sei es als Teil von Festen, als Ausdruck regionaler Zugehörigkeit oder als touristische Attraktion. Trachten sind keine rein historischen Gewänder, die sich nie verändert haben. Trachten waren schon immer in Bewegung, waren Trends unterworfen in Form und Funktion. Trachten leisten heute noch etwas, das die sonstige Mode nicht kann. Die Menschen verändern sich durch das Tragen der Tracht. Ihnen wird eine besondere Schönheit und Würde zuteil. Sie befreien sich von ihrer Individualität und werden Repräsentanten von etwas Größerem. Von einer Tradition einer Region. Trachten verleihen ihrem Träger einen Hauch von Ewigkeit, so wie ein Monarch auf einem Gemälde sich auch nicht als Individuum präsentiert, sondern für eine Dynastie steht. Im Alltag jedoch hat die Tracht heute ihre Bedeutung komplett verloren.
Quellen
- Bayerische Kleiderordnung von 1805. Staatsarchiv München.
- Bayerischer Trachtenverband, Trachtenvereine in Bayern: Ursprung und Entwicklung, 1995.
- Deutsches Trachtenmuseum, Die Wirkung der Industrialisierung auf die Volkskultur, 2002.
- Die Trachtenszene im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde (Band 88), 2010.
- Greinwald, Maria, Tracht und Mode im 19. Jahrhundert, 1998.
- Hohenberg, Georg, Trachten, Berlin 2015.
- Hohenberg, J., Die Geschichte der Tracht in Bayern und Österreich, München 1987.
- Köfer-Rickenbach, Arlette, Fernand Rausser und Johannes Schmid-Kunz, Trachten machen Leute, Bern 1998.
- Langreiter, Nikola, Getrud Pesendorfer und die Trachtenerneuerung. Begleitheft zur Ausstellung des Tiroler Landesmuseums, Innsbruck 2019.
- Müller, M., Kleider machen Leute – Mode und soziale Ordnung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002.
- Rosenbaum, P., Tracht im Alpenraum. Die Entwicklung der regionalen Kleidung. Innsbruck 2005.
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