Die Regensburger Domspatzen und ihr romantisches Erbe

Warum Tiere und Menschen harmonieren

2. März 2024

Lesezeit: 7 Minute(n)

Text: Karl Birkenseer Fotos: Michael Vogl, Marcus Weigl, Bernhard Spöttel, Christina Ostrower
In Matti Bauers Domspatzen-Film von 2008 hüpft ein echter kleiner Spatz tapsig über das Pflaster des Regensburger Domplatzes. Der Sperling – lateinisch passer, vulgo Spatz – gehört zu den Singvögeln und hat sich deshalb hervorragend dafür geeignet, zum Namensbestandteil eines der berühmtesten Knabenchöre der Welt zu werden. Dass hier seit 2022 auch weibliche Spatzen mitmischen, unterstreicht den Befund nur. Freilich hießen die Mitglieder des Regensburger Domchors – so der offizielle Titel – nicht immer Regensburger Domspatzen. Erst gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts ist dieser liebevoll-tierische Spitzname für die Kathedralsänger am Dom St. Peter tatsächlich belegt1. Und das ist relativ spät, wenn man bedenkt, dass der Chor bereits seit dem Jahr 975 besteht, also 2025 sein 1050-Jahr-Jubiläum feiern kann.

Singvögel als Namensgeber

Der Spatz ist nicht der einzige Singvogel, der es zu chorischen Ehren gebracht hat. Davon zeugen etwa die Westfälischen Nachtigallen, die von 1948 bis 2015 existierten, oder die Bergfinken Dresden, der Chor des Sächsischen Bergsteigerbundes. Besonderer Beliebtheit bei diversen Gesangsgruppen erfreuen sich die Lerchen, die beispielsweise von folgenden Ensembles im Namen geführt werden: Leipziger Lerchenchor, SüdpfalzLerchen, Wackenbach-Lerchen, Frühlingslerchen oder Gonsbachlerchen.

Doch zurück zu den Regensburger Domspatzen, die unter den Sperlingsablegern – da gibt es noch die Kastelruther Spatzen, die Westerwälder Spatzen oder die Ulmer Spatzen – sicher die prominentesten sein dürften. Dass der Spatzenname gerade im 19. Jahrhundert aufkam, scheint kein Zufall zu sein. Denn in dieses Säkulum fällt die große Zeit der Romantik, eine Epoche in Literatur, bildender Kunst und Musik, die dem aufgeklärten Geist des 18. Jahrhunderts die Macht des Gefühls und der betonten Innerlichkeit entgegensetzte. Dazu gehörte auch eine neue Mittelalterbegeisterung, die Wiederentdeckung des Volks, also der einfachen Leute, als Träger und Adressat einer oft national verstandenen Kultur, und eine intensive Hinwendung zu christlichen Traditionen.

Foto: Michael Vogl

Romantischer Bezug zur Natur

Ohne die Ära der Romantiker und ihrer Vorläufer hätte es wohl auch nicht den lange anhaltenden Siegeszug des deutschen Volkslieds gegeben, der seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts leider einen Einbruch erlebt. Die zahlreichen Liedsammlungen der Romantik – teils aus echter Volksüberlieferung stammend, teils aus dem dichterischen Geist der Epoche nachgeformt – fanden eine starke Breitenwirkung, und viele der bekanntesten Volkslieder zählen bis heute zum Kernrepertoire der Regensburger Domspatzen. Die Naturbezogenheit des Volkslieds und des volkstümlichen Kunstlieds umfasst dabei nicht nur Wald und Feld, Berg und Tal, sondern auch die Tierwelt – von den Fischen (Franz Schuberts Forelle) über die Nutztiere der Landbevölkerung (Im Märzen der Bauer sein Rösslein einspannt) bis hin zu den gefiederten Bewohnern der Lüfte, die mit ihrem Gesang die Menschen erfreuen. »Zurück zur Natur« lautete damals eine Parole, und so nimmt es nicht wunder, wenn vom natürlichen Vogelgezwitscher zur natürlichen Stimme menschlicher Sänger eine Parallele gezogen wurde und Namen wie Domspatzen entstanden.

Nur nebenbei sei in diesem Text über Tierbezüge in der volksnahen Musik erwähnt, dass die Regensburger Domspatzen der romantischen Forderung nach Natürlichkeit auch ihren Aufstieg zu einem der berühmtesten Knabenchöre der Welt verdanken. Das Ideal des a-cappella-Gesangs, also allein mit den Mitteln der menschlichen Stimme und ohne Orchesterbegleitung, stand im Zentrum des sogenannten Cäcilianismus, der zum Ausgangspunkt der Regensburger Tradition wurde. Diese kirchenmusikalische Richtung mit der Bevorzugung der altklassischen Vokalpolyphonie eines Palestrina, Lasso oder Hassler prägt das Programm der Domspatzen trotz aller Erweiterungen noch immer. Vergleichbar dem gotischen Regensburger Dom, der in der Zeit der Romantik purifiziert, also in einen gedachten Ursprungszustand zurückgeführt wurde, wandelten sich die Regensburger Domspatzen zu jenem Chor reiner Stimmen, deren hohe Gesangskultur von Kritikern gerühmt wird.

Zum ersten Mal nach über 1.000 Jahren gibt es seit 2022 bei den Regensburger Domspatzen auch einen Mädchenchor.

Foto: Marcus Weigl

»Das Singen ist auch eine Art
Fliegen …«

Sakrales und weltliches Repertoire

Wie sehr die Pflege des Volkslieds zur Erfolgsgeschichte der Domspatzen beitrug, wird nirgends deutlicher als beim Blick auf Theobald Schrems (18931963), der fast 40 Jahre lang, bis zu seinem Tod, Regensburger Domkapellmeister war. Der Vater der modernen Domspatzen2 konnte die Aufbauarbeit seiner unmittelbaren Vorgänger fortsetzen und den Domchor systematisch zu jenem international wahrgenommenen Spitzenensemble formen, das in gleichbleibender Qualität bis heute besteht. In dem von ihr herausgegebenen Buch über Theobald Schrems3 bemerkt Christel Erkes, er habe nach einer Methode unterrichtet, »die vom Volks- und Kinderlied ausgeht«4. Dieser Grundsatz durchziehe »die ganze musikerzieherische Arbeit von Theobald Schrems und bildet die Grundlage für sämtliche musikalische Kernvorgänge und Lernprozesse«5. Erkes zitiert Schrems mit den Worten: »Die Gesangserziehung der Jugend kann gar nicht früh genug begonnen werden. Gesang ist ja die natürliche Herzenssprache, die sogar schon vor dem Sprechen einsetzt.«6

Hier haben wir ihn wieder, diesen Verknüpfungspunkt einer vorrationalen Erlebensweise, die eine Brücke zwischen Mensch und Tier darstellen könnte. In der christlich-jüdischen Tradition sind beide die Geschöpfe Gottes. Das Alte Testament der Bibel beschreibt vor dem Ursprung des Menschen die Erschaffung der Tiere: »Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle von lebendigen Wesen, und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen. […] Dann sprach Gott: Das Land bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor, von Vieh, von Kriechtieren und von Tieren des Feldes. So geschah es.«7 Und noch in der Erzählung von der Arche Noah werden angesichts der Sintflut Mensch und Tier gleichermaßen gerettet.

Es ist deshalb nicht ohne Bedeutung, wenn ein Kathedralchor wie die Regensburger Domspatzen in den weltlichen Konzertprogrammen nach wie vor eine Aufteilung zwischen geistlichem Teil und der zweiten Konzerthälfte aus Volksliedern, Sologesängen und Madrigalen pflegt, wie es auch unter dem derzeitigen Domkapellmeister Christian Heiß ganz selbstverständlich der Fall ist. Diese nachdrückliche Berücksichtigung der Volksliedtradition spiegelt sich in der Diskografie des Chores wider. Stephan Schmid verweist in seinem einschlägigen Beitrag8 darauf, dass bereits der »Großteil der Schellackaufnahmen der 30er-, 40er- und 50er- Jahre« des 20. Jahrhunderts vom Volkslied bestimmt gewesen sei9. Darunter befanden sich, um das Tierthema anzusprechen, die Domspatzen-Klassiker Kommt ein Vogerl geflogen und Ein Jäger aus Kurpfalz, wo ja neben dem Pferd des Jägers auch das gejagte Wild und der Kuckuck eine bedeutende Rolle spielen.

Die Lausbuben des Regensburger Doms.

Foto: Christina Ostrower

Vor 1959, als eine ganze Plattenserie mit Volksliedern beim Label Polydor der Deutschen Grammophongesellschaft begann, erschienen noch bei Christophorus Aufnahmen, u. a. von Nachtigall, ich hör dich singen, Im Märzen der Bauer, und für den Europäischen Phonoclub/Bertelsmann eine Einspielung, die auch Auf einem Baum ein Kuckuck saß enthielt. Danach sind unter der Leitung von Theobald und Hans Schrems bis 1968 Titel zu registrieren wie Fuchs, du hast die Gans gestohlen, Zogen einst fünf wilde Schwäne und Wem Gott will rechte Gunst erweisen (mit der bezeichnenden Passage »Die Lerchen schwirren hoch vor Lust: Was sollt ich nicht mit ihnen singen aus voller Kehl und frischer Brust«). In einer Aufnahme von 1981 unter der Leitung von Georg Ratzinger war dann u. a. Zu Regensburg auf der Kirchturmspitz zu hören, wo neben den allgegenwärtigen Schneidern die Tiere Gockelhahn, Ziegenbock, Maus und Floh vorkommen, und 1997 unter Roland Büchner wiederum der Klassiker Kommt ein Vogerl geflogen.

Doch auch bei Weihnachtsliedern ist das liebe Vieh – ausgesprochen oder unausgesprochen – mit dabei. Stille Nacht, heilige Nacht oder Als ich bei meinen Schafen wacht evozieren die Schar der Hirten mit den ihnen anvertrauten Kreaturen und den Stall, in dem Ochs und Esel auf das Jesuskind »in Heu und Stroh« schauen10. Selbst bei den alten Meistern der Vokalpolyphonie kommen hin und wieder tierische Bezüge vor, so bei Palestrinas berühmter Motette Sicut cervus desiderat ad fontes aquarum (Wie der Hirsch verlangt nach den Quellen der Wasser).

Gedanken von höchster Stelle

Dass diese Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier einen hochtheologischen Aspekt hat, machte der spätere Papst Benedikt XVI., Bruder von Domkapellmeister Georg Ratzinger, ein familiärer und naher Freund der Domspatzen, einmal deutlich, als er über das Bild des singenden Spatzen nachdachte. Er zitierte dabei aus dem Psalm 84: »Wie liebenswert ist Deine Wohnung, Herr der Heerscharen! Auch der Sperling findet ein Haus und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – Deine Altäre, Herr der Heerscharen, mein Gott und mein König. Wohl denen, die wohnen in Deinem Haus, die Dich allezeit loben.« Verblüffend die Interpretation, die Joseph Ratzinger folgen ließ: »Der Beter von Psalm 84 sieht sich selbst als einen ›Spatzen‹ an, der beim Altar Gottes seinen Lieblingsort gefunden hat, einen Ort, an dem er verweilen und ›glücklich‹ sein kann. Das Bild des Spatzen ist ein frohes Bild, durch das der Psalmist zeigen will, dass sein ganzes Leben zum Gesang wird. Er kann singen und fliegen. Das Singen ist auch eine Art Fliegen, bei dem wir uns zu Gott erheben und in gewisser Weise die Ewigkeit vorauskosten, in der wir ›Gott allezeit loben‹ werden.«11

___STEADY_PAYWALL___

Die Regensburger Domspatzen

Im Jahr 975 gründete Bischof Wolfgang in Regensburg eine eigene Domschule. Es ist die Geburtsstunde der Regensburger Domspatzen. 1.000 Jahre später gehört der Knabenchor zu den ältesten und berühmtesten Chören der Welt. Den Schülern war damals schon der liturgische Gesang in der Bischofskirche übertragen. Bis heute sind sie der Chor der Kathedrale St. Peter in Regensburg.

Die Regensburger Domspatzen singen freilich auch in Konzerten a cappella oder zusammen mit namhaften Orchestern. Sie sind national und international unterwegs. Egal wo die jungen Musiker auftreten, der Applaus klingt in allen Sprachen der Welt gleich: begeistert. Es ist dieser klare und warme Chorklang, der die Domspatzen über Jahrzehnte hin berühmt und unverwechselbar gemacht hat. Er zeichnet sich besonders durch seine Wandlungsfähigkeit und Dynamik aus. Durch ihren Gesang berühren die Domspatzen auf ihre Weise die Herzen der Zuhörer.

Die Chorarbeit ist eingebunden in die Bildungsaufgabe der gesamten Institution. Zu ihr gehören eine Grundschule und ein Gymnasium mit Ganztagsbetreuung und Internat. Seit 2022 nehmen Gymnasium und Internat auch Mädchen auf, die einen eigenen Mädchenchor am Regensburger Dom bilden.

www.domspatzen.de

Domspatzen als Pralinen

Regensburger Domspatzen Pralinenherstellung Konditorei Pernsteiner. Foto: Michael Vogl

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Werbung

L