Text: Florian Schwemin Fotos: Lukas Beck, meine-news.tv, Verband der sächsischen Bergmann- und Hüttenvereine/G. Melzer
Heidi Klum & Tom Kaulitz singen nackt unter der Dusche«, so lautete im November 2011 eine Schlagzeile in der Boulevardpresse. Das mag ein seltsamer Aufhänger für einen Artikel in der »zwiefach« sein, die doch eher für Biergarten, Blasmusik und Bayern als für Brüste, Boulevard und Promis steht, doch gehen von diesem reißerischen Aufmacher Assoziationslinien aus, die doch besser zum Thema des Heftes passen als gedacht. Damit ist nicht nur allein die Tätigkeit des Singens gemeint – in diesem Fall ein Disney-Hit aus Frozen 2.
Singen stiftet Gemeinschaft, bringt Menschen zusammen (nicht nur unter der Dusche), kann Grenzen überwinden und ist vor allem eine kulturelle Praxis, die weltweit ausgeübt wird. Auch wenn die Gesangsweisen, -techniken, -melodien, -anlässe und -formen oft äußerst verschieden sind, so ist ihnen allen gemein, dass sie durch nichts anderes als die Schwingung der menschlichen Stimmbänder gestaltet werden. Als völlig ohne Werkzeug ausgeführte, überlieferte und oft mündlich tradierte Kulturtechnik ist das Singen natürlich ein naheliegender Kandidat für das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit.
Singen stark vertreten
Von den 90 im Jahr 2008 in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommenen Ausdrucksformen hat rund ein Viertel Gesang als einen zentralen Bestandteil. Vielfach wurden auch dezidiert Formen des Singens wie die Tradition des vedischen (altindischen) rituellen Gesangs oder der iso-polyphone Gesang der Tosken und Laben – eine besondere südalbanische Form des mehrstimmigen Gesangs, bei dem zu den Oberstimmen eine Bordunstimme auf den Vokalen E oder O gesungen wird – auf diese erste Liste aufgenommen, die sich aus den seit 2005 von der UNESCO gesammelten Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit speiste. Seitdem vergeht kein Jahr, in dem nicht eine der vielfältigen Gesangstraditionen der Welt in die Repräsentative Liste aufgenommen wird.
Neben dieser internationalen Liste existieren auch verschiedene nationale und in Deutschland auch länderspezifische Listen, auf die wir hier für die DACH-Region einen Blick werfen und diese auf gesangliche Kulturformen abklopfen wollen. Diese lassen sich in verschiedene Kategorien einteilen.
Eine wichtige Gruppe sind Gesangspraktiken im Kontext von Bräuchen. Allen voran das Sternsingen (1x in Deutschland, 1x in der Schweiz, 3x in Österreich), Osternachtssingen in Laudenbach, Lichtmesssingen im südlichen Oberösterreich, Stille Nacht – das Lied zur Weihnacht, Brunnensingen der Sebastianibruderschaft Rheinfelden und der Betruf in der Zentralschweiz). Außen vor gelassen in dieser Auflistung wurden Bräuche, bei denen Gesang auch eine Rolle spielt wie z. B. die Kirwa im Raum Amberg-Sulzbach. Über die Rolle von Musik bei Bräuchen siehe den Aufsatz in der »zwiefach« 4/2019. Musik kann hier verschiedene Funktionen erfüllen, im Fall des Singens ist es in erster Linie die Vergemeinschaftung der Singenden oder eine pädagogisch-didaktische Funktion.
Sängerknaben und Liedgut
Als zweite Gruppe lassen sich verschiedene Ausprägungen des Chorwesens zusammenfassen, die historisch gesehen (und verkürzt dargestellt) drei Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung des Singens repräsentieren. An erster Stelle stehen hier die Knabenchöre, die im Mittelalter bzw. in der Frühen Neuzeit in einem kirchlichen bzw. höfischen Kontext (dort aber wie die Wiener Sängerknaben primär im kirchlichen Rahmen eingesetzt) entstanden. Namentlich stehen die Sächsischen Knabenchöre, die vier Knabenchöre Bayerns und die Ausbildungs- und Chortradition der Wiener Sängerknaben auf den Listen. Diese stehen gleichzeitig auch für den immensen Einfluss, den die Medienrevolution des Informationszeitalters auf den Gesang und die Gesangstradition hatte und hat. Ohne Rundfunkaufnahmen und Schallpatten wären die besagten Chöre nicht annähernd so bekannt wie sie es heute sind, gleichzeitig festigen solche klanglichen Dokumentationen auch ein Klangideal.
Die verschiedenen Eintragungen zu Laienchören – Chormusik in deutschen Amateurchören, Chant choral des Fribourgeois, Glarner Chor- und Orchesterwesen und die Finsterwalder Gesangstradition – verweisen auf die Emanzipation des Bürgertums im 19. Jahrhundert und das Laienmusizieren und -singen als Bestandteil des selbstbestimmten Lebens in einer demokratischen Gesellschaft. Eine ältere Form des Singens mit emanzipatorischem Hintergrund ist das ebenfalls gelistete Choralsingen, das im 16. Jahrhundert in Folge der Reformation den Volksgesang in den Gottesdiensten etablierte.
Eine dritte Gruppe nimmt nicht primär den Anlass oder die Zusammensetzung der Singenden, sondern das zugrundeliegende Liedgut als Ausgangspunkt für die Eintragung in die Liste. Die Choräle könnten auch hier mitgedacht werden. Hier geht es entweder, wie auch bei Stille Nacht um einzelne Lieder oder um eine spezielle Art des Gesangs, der Lieder oder der Sänger. Für Regionen mit Montangeschichte – dazu zählen auch Teile der Oberpfalz – ist das Singen des Steigerlieds eine relevante Eintragung, die wohl auch unter dem Aspekt des Wandels und der Bewahrung betrachtet werden muss, schließlich ist der Strukturwandel in allen Bergbauregionen Deutschlands nahezu abgeschlossen. Das Singen der Lieder der Deutschen Arbeiterbewegung ist eine weitere Eintragung, welche die Gesangspraxis als Vehikel von gesellschaftlicher Auseinandersetzung und die Lieder als Spiegel gesellschaftlicher Umstände und Prozesse begreift.
Die Lieder der Lovara – einer Gruppe von Roma im Burgenland – sind eine weitere gruppenspezifische Form, die als immaterielles Kulturerbe gelistet sind.
Auch für die Gruppe der »zwiefach«-Leser – die sich vor dem geistigen Auge des Autors nicht vordergründig aus Chorknaben und arbeiterbewegten Bergleuten oder nomadischen Pferdehändlern zusammensetzt – gibt es Formen gesungenen Kulturerbes. Für uns wohl am wichtigsten sind die Zwiefachen und der Wiener Walzer, die beide als gespielte, getanzte und eben auch gesungene Art der Musik in die Verzeichnisse aufgenommen wurden. Außerdem liegen natürlich das Naturjodeln und Jodellied sowie der Wiener Dudler – eine Art städtischen Jodelns – nahe an den Interessen und Fähigkeiten der Leserschaft.
Gesangstraditionen weitervererben
Studien dazu, was passiert, wenn eine Gesangstradition zum Erbe wird, waren für unseren Sprachraum nicht zu finden. Das kann auch damit zusammenhängen, dass besonders die volksmusikalischen oder in Brauchkontexte eingebundenen Singtraditionen meist schon den Status des immateriellen Kulturerbes avant la lettre hatten. Jodeln und Sternsingen wurden spätestens mit der Heimat- und Volksmusikpflege der Nachkriegszeit als erhaltenswertes Erbe erkannt und gepflegt. Damit verbunden waren und sind dann Diskussionen um die richtige und falsche Ausübung und die Weiterentwicklung der jeweiligen Gesangstradition.
Für den cante alentejano – mehrstimmige Gesänge aus dem Süden Portugals – gibt es eine Studie, in der die Prozesse nach der Aufnahme in die Liste untersucht wurden. Dabei wurden mehrere Spannungsfelder identifiziert, die wohl in Teilen auch auf Gesangspraktiken hierzulande übertragen werden könnten. Bei der Lektüre fühlt man sich vielfach an vergangene oder aktuelle Fragen der Volksmusikpflege erinnert, wenn es etwa darum geht, ob das Tragen von Tracht ein sine qua non bei öffentlichen Auftritten ist. Weitere Konfliktlinien laufen entlang der Generationen und der Frage nach der Deutungshoheit, wer darüber entscheidet, welche Performanz die richtige ist. Eine Kodifizierung im Sinne einer Festschreibung als Kulturerbe kann hier von vornherein Weiterentwicklungen abwürgen, diese aber auch – je nach Auslegung – gegenüber den (oft vermeintlich) tradierten Formen aufwerten.
Aus der Studie lassen sich auch für hierzulande zum Kulturerbe erklärte Formen des Singens, aber auch für solche, die noch nicht gelistet aber genauso relevant sind (man denke an das Ari’nsingen im Bayerischen Wald oder die vielen Dreigesänge), Ansätze zur Pflege mitnehmen. Beispielsweise werden in Portugal Ansätze entwickelt und verfolgt, wie bei der Vermittlung des traditionellen Gesangs in der Schule der Balanceakt zwischen Rücksichtnahme auf lokale Traditionen und einer großflächigeren akademischen Herangehensweise gelingen kann.
Besondere Aufmerksamkeit
Singen kann man guten Gewissens als immaterielles Kulturerbe in Reinform bezeichnen, schließlich gibt es – vielleicht außer Tanzen – kaum kulturelle Betätigungen, die mit noch weniger Material auskommen. Man könnte es sogar nackt machen. Sogar zu zweit unter der Dusche. Ob man das deshalb dann noch über die sozialen Medien verbreiten sollte, das sei einmal dahingestellt.
Als immateriellem Kulturerbe kann Formen des Singens neue Aufmerksamkeit zugutekommen. Im Falle des cante alentejano in Portugal ging mit der Aufnahme in der Liste auch ein Wandel in der Wertigkeit einher. Viele, die den Gesang als kitschig oder altmodisch empfanden, bekamen durch die Erbewerdung und die verbriefte Beziehung des Singens zur regionalen Identität einen neuen Zugang. Zugleich entwickelten verschiedene Gruppen Interesse an der Weitergabe, Vermittlung und Weiterentwicklung vor Ort. Vielleicht kann das ein Anreiz sein, auch hierzulande weitere Formen der vielfältigen Gesangskultur in der Volksmusik durch eine Bewerbung und Aufnahme in eine der Listen des Immateriellen Kulturerbes zu der Wertschätzung zu bringen, die ihnen eigentlich zusteht.
Literaturempfehlung (für alle, die Französisch können):
Maria do Rosário Pestana et Maria José Barriga, Le patrimoine c’est nous ! Voix plurielles autour du cante alentejano, Transposition [En ligne], 8 | 2019, mis en ligne le 15 septembre 2019, consulté le 26 mai 2024. [URL: http://journals.openedition.org/transposition/3353]
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