Wenn er am zweiten Julisonntag morgens ins Ankleidezimmer geht, dann holt er dort sein Fasnetshäs aus dem Schrank. Schwarze Schuhe, weiße Handschuhe und das schwarze Zottelgewand machen ihn heute zu einer Hauptfigur in einem Tanz, der noch bis Ende des 19. Jahrhunderts nur alle zehn Jahre an Fastnacht aufgeführt wurde – der Überlinger Schwertletanz. Das ist der festliche Repärsentationstanz der Überlinger Weingärtnerzunft. Wer er ist, wissen nur die Platzmeister und die Fahnenkompanie. Für alle anderen bleibt er der anonyme »Tote im Narrenkleid«.
Text: Wulf Wager Fotos: Fotografie Lauterwasser, Peter Haller, Stadt Überlingen, Internationale Bodensee Tourismus GmbH / Mende, Wulf Wager
Schwertletänzer müssen einen guten Leumund haben und bleiben, wenn sie von der Gemeinschaft gewählt wurden, ein Leben lang der Schwerttanzkompanie treu. Früher wurde der Tanz von den Ledigen der Zunft der Rebleute getanzt. Längst gibt es nicht mehr so viele Weingärtner, deshalb nehmen die Schwerttänzer in ihren Reihen auch Männer mit anderen Berufen auf. Aber es ist schon etwas Besonderes, zu diesem Männerbund zu gehören. Die erste urkundliche Erwähnung des Brauches findet sich in einem Ratsprotokoll vom 8. Februar 1646, in dem der Zunft die Aufführung des Tanzes obrigkeitlich genehmigt wurde. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier von dem Brauch gesprochen wird, lässt vermuten, dass der Tanz schon lange in der ehemals freien Reichsstadt am Bodensee praktiziert wurde. In den Städten spielten die Zünfte eine wichtige Rolle. Sie konkurrierten gar miteinander. Und so brauchten sie auch Repräsentationsformen, die sie von anderen Zünften unterschieden. Seit 1789 liegt sogar ein Ordnungsbuch für die ledigen Rebleith vor, in dem jede Tanzaufführung bis heute lückenlos dokumentiert wurde.
Im Teufelshäs schweigend durch die Stadt
Ursprünglich bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Tanz allerdings zur Fastnachtszeit aufgeführt. Davon kündet auch der Hänsele, die traditionelle Überlinger Fasnetsfigur, die beim Tanz eine wichtige Rolle spielt. Mit dieser Teufelsfigur hat sich eine mehr als 500-jährige Kulturgeschichte überliefert. Ein aus dem Jahr 1496 stammender Ratserlass der Reichsstadt am Bodensee besagt, dass dort ein im Besitz der Heiligenpflege der Pfarrei St. Nikolaus befindliches Teufelsgewand »tewfel häs«, das übers Jahr bei Prozessionen getragen wurde, auch für die profane Nutzung während der Fastnachtstage zur Disposition stand. Umgekehrt schreibt die Ordnung vor, dass wenn sich jemand ein eigenes Teufelshäs zur Fastnacht gemacht hat, das auch für kirchliche Zwecke zur Verfügung stellen solle. Schon früh also zeigt sich hier die Verbindung zwischen Fastnachtsformen und Kirche.
Eine örtliche Sage berichtet davon, dass einst eine Hundertschaft Überlinger in den Krieg ziehen musste. Alle Männer gingen in die Kirche um die heiligen Sakramente zu empfangen. Nur einer nicht, der trieb sich in Wirtshäusern herum. Alle kamen gesund wieder nachhause, nur einer nicht. Das soll der Hänsele sein. In Überlingen spricht man bis zum heutigen Tag von »dem Toten«. »Das moralisierend-didaktische Bestreben hinter dieser über Generationen hinweg bewahrten Geschichte ist offensichtlich«, schreibt der Freiburger Ethnologe Werner Mezger. Angesicht des Toten im Hänselegewand sollte jedermann erkennen, dass derjenige, der Gott verachtet oder gar leugnet, sich nicht nur selbst zum Narren macht, sondern dass er durch seine Haltung zugleich auch unweigerlich seinen Tod besiegelt, für den es keine Erlösung und keine Wiedererweckung gibt. Als Toter und auf ewig Verdammter will er die Lebenden davor warnen, seinem Weg zu folgen.
»Hänsele, gang in Gott’s Namen!«
Am Morgen des Festtages trifft sich die Fahnenkompanie zu einem kleinen Imbiss, zu dem sich auch der Hänsele gesellt. Von den Platzmeistern wurde die Person ausgewählt, die dieses schweigsame Amt bekleidet, denn reden darf sie den ganzen Tag nicht. Vor dem allgemeinen Aufbruch besprengt der Erste Platzmeister den Hänsele mit Weihwasser und befördert ihn mit einem kräftigen Fußtritt in den Allerwertesten und den begleitenden Worten »Hänsele, gang in Gott’s Namen!« an die frische Luft. Nun zieht er schweigend und Geld sammelnd durch das Dörfle, den oberen Teil der Stadt, in der einst die Weingärtner wohnten. Während sich die Fahnenkompanie mit den Spielleuten und dem Rest der Kompanie vereinigt, zeigt er sich noch einmal kurz und schnellt mit seiner Karbatsche, einer kurzstieligen, bis zu vier Meter langen Peitsche. Nun zieht die Kompanie mit klingendem Spiel in das Sankt-Nikolaus-Münster zur Messe ein. Dem Hänsele ist es strengstens verboten, das Gotteshaus zu betreten. Während seine Zunftbrüder vor dem von Bildhauer Jörg Zürn (1583–1635) kunstvoll geschnitzten Hochaltar beten, treibt sich der Hänsele in Gasthäusern herum. Doch ein außergewöhnlicher Auftritt steht ihm noch bevor.
Bei der zweiten Figur bleiben die Platzmeister stehen und alle anderen tanzen unter deren erhobenen Degen hindurch. Nach jeder Runde bleibt ein weiterer Tänzer stehen, so dass sich die Degen überkreuzen.
Der Maschen: Auf dem Höhepunkt des Tanzes, wird der Hänsele in der Mitte der Schwerter-Rosette gefangen genommen.
Der Maschen: Auf dem Höhepunkt des Tanzes, wird der Hänsele in der Mitte der Schwerter-Rosette gefangen genommen.
Osanna-Glocke gegen Peitschenknall
Wenn die Messe ihren Höhepunkt erreicht, wenn die Eucharistie gefeiert wird und der Priester Wein und Hostie mit den Gläubigen teilt, dann steht der Hänsele nur wenige Meter entfernt neben dem Westportal des Münsters und macht mit seiner Karbatsche im wahrsten Sinne des Wortes einen Höllenlärm. Während der Wandlung erklingt auch die große Osanna-Glocke, und so beschleicht einen ein seltsam mystisch-blasphemisches Gefühl, wenn Glocke und Karbatsche gegeneinander in akustischen Wettstreit treten. Die Überlinger haben dieses Brauchdetail beibehalten, obwohl sie lange schon nicht mehr wussten, welche kulturgeschichtliche Idee dahintersteckt. Werner Mezger brachte Licht ins Dunkel dieses Brauches: »In der Figur des Hänsele lebt eine heute kaum noch bekannte Idee des Mittelalters nahezu ungebrochen fort. Damals galt der Narr nämlich keineswegs als Lustigmacher und Possenreißer oder gar als Inbegriff des Humors schlechthin, sondern eher das Gegenteil war der Fall: Man sah in ihm den sozialen Außenseiter, den aus der christlichen Heilsgemeinschaft Verstoßenen, denjenigen, der Gott ferne und dem Teufel dafür umso näher stand.« Untermauert wird das durch die ältesten Narrendarstellungen überhaupt, die sich in der bildenden Kunst durchweg in Psalter-Handschriften finden, und zwar immer am Anfang des 52. Psalms, wo steht: »Der Narr sprach in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott!« Genau diese Gottferne symbolisiert der Hänsele durch seinen Stör-Akt bei der Wandlung, dem heiligsten Teil der katholischen Messe.
Unter dem Maschen findet der Narr sein Ende
Nach dem Gottesdienst zieht die Überlinger Schwertletanzkompanie aus dem Münster auf die Hofstatt, den Überlinger Marktplatz. Der Hänsele erwartet sie schon, die Karbatsche laut schnellend. Nun lässt der Erste Platzmeister die Kompanie in militärischem Zeremoniell antreten. Er begibt sich dann mit seinem Zweiten Platzmeister zur weltlichen Obrigkeit in Person des Oberbürgermeisters und bittet in einer Meldung um die Erlaubnis, den Tanz wie vor alters aufführen zu dürfen. Sind die beiden Platzmeister zurück bei der Kompanie, treten die Tänzer vor und beginnen ihren Tanz. Das Schwert – Zeichen des freien Bürgers – dient dabei als Bindeglied von Mann zu Mann und nicht als Kampfgerät.
In Form einer liegenden Acht, dem Symbol für die Ewigkeit springen die Tänzer über die Hofstatt, lassen einander »über die Klinge springen«, durch ein Tor tanzen und flechten alle Schwerter zum sogenannten Maschen. Das goldene Tor, der Sprung über die Klinge – Symbolik pur. Nun bricht die Musik ab und der Hänsele schlüpft unter die erhobenen, geflochtenen, blanken Waffen. Der Fähnrich tritt hinzu und schwenkt die Zunftfahne hoch über den Köpfen der Tänzer. Währenddessen lässt der Erste Platzmeister die »geliebte Vaterstadt« hochleben. Ein symbolischer Akt der Bekehrung des gottfernen Narren; Scheintötung und Wiedererweckung als Bekehrter. Mezger schreibt dazu: »Er, der als rätselhafter Außenseiter durch das sonst fröhliche Geschehen geistert, vermittelt eine ernste Botschaft. Als Toter und auf ewig Verdammter will er die Lebenden davor warnen, seinem Weg zu folgen. Heute findet man ihn freilich bloß noch komisch. Unsere reizüberflutete, geräuschvolle Zeit scheint für seine stumme Mahnung nicht mehr hellhörig genug zu sein.«
Am Ende des Tanzes treten nun auch die Frauen auf den Plan; sie sind in der bürgerlichen Tracht Überlingens gekleidet, zu der auch die goldene Radhaube gehört. Denn nach dem Schwertletanz folgen die sogenannten Maidlintänze, alte Volkstänze wie Rheinländer, Kreuzpolka und Hopswalzer. So viel Tradition und Tanzen macht durstig. Was nach der Aufführung im Aufkircher Tor, dem Zunfthaus der Überlinger Schwerttanzkompanie, bei etlichen Vierteln Überlinger Wein besprochen wird, bleibt der Außenwelt allerdings verborgen: Zutritt nur für Zunftbrüder. Nur eines ist sicher: Trinken können die Nachfahren der Rebleute …
Der Überlinger Schwertletanz wird nur zu besonderen Anlässen und im Anschluss an die zweite Schwedenprozession (2. Sonntag im Juli) vorgeführt. Er besteht aus vier verschiedenen Figuren und reiht sich ein in eine lange Tradition des Schwerttanzes in Mittel- und Westeuropa, dessen Spuren bis zum Ende des 14. Jahrhunderts urkundlich nachgewiesen werden können.
0 Kommentare