Der Blick, von einem Hügel zum anderen

Ein musikalischer Reisebericht von der Oberpfalz in die Blue Ridge Mountains und wieder zurück

13. Mai 2025

Lesezeit: 6 Minute(n)

Text und Fotos: Agnes Kloos

Das Wetter war ungewöhnlich warm für Oktober, die Luft klar und das Abendlicht besonders transparent. Eine willkommene Abwechslung zum tristen Regensburger Herbstnebel. Ich saß auf der Terrasse des Virginia Center for the Creative Arts, die Gabel schwebte über meinem Teller in der Luft, denn vor lauter Staunen vergaß ich fast zu essen. Ein Stipendium des Oberpfälzer Künstlerhauses, der Kebbelvilla in Schwandorf, hatte mich hierhergebracht: mitten in die Blue Ridge Mountains, Virginia, USA. Fast zwei Monate durfte ich nun hier im Rahmen einer internationalen Artist Residency leben und komponieren. Ein Jahr zuvor hatte ich mich mit meinem Solo-Songwriterprojekt Nessa Tanas dafür beworben, um ein Konzeptalbum zu schreiben, in dem die Songs miteinander verwoben und durch Instrumentalstücke verbunden sind. Es sollte eine Geschichte über die Nuancen der Zwischenmenschlichkeit, das Woher und Wohin, und das stetige Werden erzählen. Ein Album, das man von vorne bis hinten hören möchte, weil es einen Ausblick bietet, den man nur im Zusammenhang sieht. Was man halt so macht, nichts Besonderes.

Zwiefache auf der anderen Seite des Ozeans

Ich war mit leichtem Gepäck gereist, hatte weder Geige noch Gitarre mitgebracht, sondern nur meinen Laptop, eine Audiosoftware mit Midi-Plugins und ein Mikrofon. Mein Studiozimmer war groß und lichtdurchflutet, hatte weiße Wände und einen weißen Flügel im Eck. Dazu ein Schreibtisch, ein Sessel und ein Bett. Alles, was man braucht – eigentlich mehr als genug. Doch irgendetwas fehlte: Inspiration. Ich saß 9 to 5 in meinem Studio und hatte keine. Alles war wunderschön, aber durchweg unpersönlich. Natürlich. Warum reicht meine Persönlichkeit nicht aus, fragte ich mich. Was macht mich überhaupt aus – musikalisch, kreativ und generell als Mensch? Wie funktioniert Kreativität, wenn sie nicht nebenbei passiert? Wer bin ich, wer will ich sein, was genau will ich nochmal sagen und vor allem: wie? Ich zerbrach mir den Kopf, aber das führte nur zu weiteren Fragen.

Irgendwann beschloss ich, dass ich einfach anfangen musste, egal wo. Nachdem ich aus lauter Verzweiflung eine sechsstündige Dokumentation über die Beatles anschaute, und danach ein Lied über ein Stück Luftpolsterfolie schrieb, wurde mir bewusst, dass ich zwar keine schlechte Musikerin bin, aber eine unerfahrene Produzentin. Ein tolles Klavier, eine Software und die Freiheit eines schier grenzenlosen Raums reichten nicht aus, um etwas Relevantes zu erzählen. Die Beatles waren eine gute Band, weil sie eine einzigartige connection hatten. Mir fehlte die Verbundenheit. Also lieh ich mir kurzerhand im nächsten Musikgeschäft eine Geige, um mit dem zu beginnen, was ich kannte. Und so kam es, dass ich auf der anderen Seite des Ozeans oberpfälzische Zwiefache spielte. Zum Zirpen der Grillen und dem lautstarken Quaken der Frösche klatschte ich Zweier- und Dreiertakte, und versuchte, mich irgendwo einzufügen in diese ungewohnte Umgebung, und einen neuen Rhythmus zu finden.

»Vielleicht bietet Musik genau den grenzenlosen Raum, der mir als Heimat reicht.«

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Ungewöhnliche Komposition: Ein Stück für Luftpolsterfolie

Begegnungen – mit Unbekanntem, mit Ungewöhnlichem und mit fellows

Die Natur in Virginia hat viel zu bieten. Die mountains sind zwar ähnlich zu den Ausläufern des Fichtelgebirges im Oberpfälzer Wald eher Hügel als Berge, nichtsdestotrotz kann man dort sehr schön spazieren und die Aussicht über die saftig grüne Landschaft genießen. Mehr und mehr kam ich dabei mit den anderen fellows ins Gespräch, die ihre individuellen Geschichten und Weisheiten mit sich herumtrugen und diese großzügig teilten. Meine Neugier war geweckt, ich hielt Ausschau nach dem Unbekannten und Ungewöhnlichen und nahm mir vor, präsent zu sein. Ich ging auf ein County-Fair (eine Art Volksfest), spielte Ping-Pong nach dem Abendessen, fing an, einen Pullover zu stricken und verabredete mich zu Jamsessions, Cocktailstunden und zum Meditieren.

Wie von selbst ergaben sich wertvolle Begegnungen: Eine Jazzgeigerin zeigte mir interessante Möglichkeiten zur Improvisation im Zusammenspiel auf. Eine Soundartistin fragte mich nach einer Kollaboration. Wir verbrachten eine Stunde in ihrem Studio und sie nahm auf, wie ich Geige spielte: Folktunes aus dem europäischen Raum, die sie im Anschluss bearbeitete, schnitt, verzerrte, und in einer Soundcollage in einen neuen Kontext setzte. Durch einen Musiker und Schriftsteller erfuhr ich von der amerikanischen Songwriterin Conny Converse, über die dieser ein Buch geschrieben hatte. Ein anderer Autor machte mich mit einer Fotografin bekannt, die neben ihrer künstlerischen Tätigkeit Gitarren baut, welche ich ausgiebig spielen durfte. Er war es auch, der meine Aufmerksamkeit auf gitarrenlastigen Americana-Folk und die Musikstadt Nashville lenkte und mich wieder in Berührung brachte mit einer Musik, die mehr nach mir klang. Ich stellte fest, dass es viele Parallelen gibt zwischen amerikanischem Folkpop und der europäischen Volksmusik, mit der ich aufgewachsen bin. Angesichts der Einwanderungsgeschichte der USA ist dies durchaus nicht verwunderlich.

Rhythmusänderung durch Klatschen von Zwiefachen

Und auf einmal war da ein Song in meinem Kopf

Obwohl ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, wofür all diese Momente gut waren, hatte ich das Gefühl, dass jeder davon wichtig war. Letztendlich war es wahrscheinlich meine Offenheit, die meiner Kreativität einen Weg nach draußen verschaffte. Ich fing an, musikalisch zu experimentieren und mich mehr von meiner Intuition als von einem strikten Plan leiten zu lassen. Auch meine Vorstellung von Komposition als 9 to 5-Job warf ich über Bord. Ohne zu wissen, wohin das alles führen würde, vertraute ich darauf, mich into place fallen zu lassen. Außerdem freundete ich mich mit dem Auf und Ab meiner Kreativität an: von »das wird was«, über »das wird nix« zu »das wurde etwas«.

Die Qualität meines Aufenthalts steigerte sich exponentiell und fand an meinem letzten Tag im VCCA ihren Höhepunkt. Als ich am nächsten Morgen nach Washington aufbrach, um von dort aus nach Deutschland zu fliegen, war ich zufrieden mit meiner Arbeit und fühlte mich bereit zurückzukehren. Im Flugzeug lauschte ich dem Nachklang meiner Erfahrungen. Und auf einmal war da ein Song in meinem Kopf, der ein bisschen nach Country klang, und den ich noch nie zuvor gehört hatte. Ich zückte mein Smartphone, öffnete die Notizen und schrieb. Die Lyrics enden mit folgender conclusion:

»I reach the top of a pretty mountain, and the mountains are always here
I think it’s just so astounding how the vision gets so clear
How the sun ’til noon is rising and the moon and stars are shining
I am sure there will be guidance if you read between the lines.«

Als ich zurück war, konnte ich der Inspiration nicht mehr entkommen. Die Zeit in Virginia hatte mich erfüllt und ich schrieb und schreibe bis jetzt mehr Musik als je zuvor. Aus meinen musikalischen Wurzeln wuchs ein neuer jazzy Folk-Pop-Sound.

Notenblatt

Noten: »Wetterleuchten«, Mazurka

von Agnes Kloos

Der grenzenlose Raum, der mir als Heimat reicht

Jedoch fiel es mir nicht leicht, wieder anzukommen. Daheim – dieses Wort muss ich noch definieren. Aber auch das Fernweh nach einem Ort, der politisch so spannend ist, erzeugt in mir Dissonanz. Wobei politische Spannung momentan überall zu spüren ist. Wie kann man dem Begriff Heimat in einer globalisierten Welt zeitgemäß begegnen? Eine Frage, die ich mir stelle, seit ich Volksmusik mache. Auf die ich keine eindeutige, geschweige denn endgültige Antwort habe und wahrscheinlich nie haben werde, weil sie meines Erachtens den kontinuierlichen Dialog fordert. Klar ist mir nur, dass uns die Orte, von denen wir kommen, genauso wie die Orte, an die wir gehen, prägen. Ich haderte mit beiden. Also widmete ich mich der Vorproduktion meines Albums, musizierte und meditierte, in der Hoffnung bald mehr Klarheit zu sehen.

Doch erst, als ich Ende Dezember ganz hinten im Woid über die sich windenden Landstraßen durch die oberpfälzer Landschaft fuhr und sich plötzlich eine gewohnte Aussicht auftat, fühlte ich mich wieder vertraut. Der Blick von einem Hügel zum nächsten und die Sicht auf das Tal, das dazwischen liegt: auf die Häuser, die Menschen, die dort leben, die Natur und die community – das Rüberschauen. Das ist es, was mir die Schönheit des Lebens mit den dazugehörigen Herausforderungen in seiner ganzen Fülle vor Augen hält. Eine Fülle, die ich betrachten und der ich Ausdruck verleihen möchte, und die erst in der Musik genügend Platz findet. Vielleicht bietet Musik genau den grenzenlosen Raum, der mir als Heimat reicht. Möglicherweise ist daheim auch überall da, wo die Menschen sind, wegen denen man den Blick vom eigenen Tellerrand hebt und darüber hinausschaut.

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