Text und Fotos: Dagmar Held
Warm scheint die Herbstsonne auf eine Gruppe von Wanderern, die sich gerade auf einem Hochplateau unterhalb des Rangsiwanger Horns zusammenstellt. Der Ausblick auf die Allgäuer Bergwelt ist einfach grandios und alle genießen erst mal diesen imposanten Anblick.
Doch es dauert nicht lange, da ertönen verschiedene Klänge: »Du-jo-lo-du-jo-u, du-jo-lo-du-jo …« Zuerst wird einstimmig probiert, dann auch mehrstimmig. Erstaunlich schnell klingt es schon gut und lockt auch gleich andere Touristen an, die diesen Auftritt sofort mit ihren Smartphones filmen. Auf Nachfrage scherzt die Gruppe, dass sie vom Tourismusverband bestellt ist, um die Wanderungen im Allgäu noch attraktiver zu machen.
Das sind sie natürlich nicht, sondern es sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bergsingwochenendes, veranstaltet vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Sie verbringen ein Wochenende auf der Kahlrückenalpe, um neue Lieder zu lernen, altbekannte aufzufrischen oder ganz Neues mit ihren Stimmbändern zu wagen, nämlich das Jodeln.
Jedes Jahr im Oktober haben hier begeisterte Sängerinnen und Sänger die Gelegenheit, ein ganzes Wochenende lang nach Herzenslust zu singen – bei schönem Wetter natürlich an der frischen Luft bei grandiosem Bergpanorama.
Woher kam die Idee für diese Art Lehrgang?
Anstoß und Motivation für diese etwas andere Art von Lehrgang war meine eigene Singlust und meine Begeisterung für Volkslieder. Auf Lehrgängen des Landesvereins für Heimatpflege in den 1980er-Jahren hatte ich ganz andere Volkslieder kennengelernt, als die allgemein bekannten. Lieder aus örtlicher Überlieferung, aufgenommen bei Feldforschungsaktionen in ganz Bayern. Lieder voller Witz, Poesie und Lebensweisheit, die mich sehr berührten. Eine neue Welt tat sich hier auf, die ich neugierig betrat und die eine große Begeisterung in mir auslöste. Ich machte mich selbst auf die Suche nach Liedern und in meiner Euphorie versuchte ich, auch meine Freunde für das Thema zu erwärmen – mit Erfolg! Geduldig probierten sie meine neuen Funde mit mir aus. Wir versuchten, eine Mehrstimmigkeit zu finden, die Lieder mit neuem Leben zu füllen und sie so auch einem größeren Kreis wieder zugänglich zu machen. Der Schritt hin zu einem Singwochenende war dann nur noch ein kleiner. Es sollte ein Singerlebnis für alle Sinne sein – sozusagen ein Singevent mit Singen, Jodeln, Wandern und Kochen. In einer Selbstversorgerhütte war dies möglich. 1993 fand ein erster Versuch statt, auf der Alpe Vorsäß im Gunzesrieder Tal. Aus dieser Idee etablierte sich ein festes Seminar, das seit 1993 jährlich im Herbst im Allgäu stattfindet.
Essentiell sind authentische Liedvermittler
Von Anfang an mit dabei war die Oberallgäuerin Loni Kuisle aus Bad Oberdorf. Sie hat sich sogleich von dieser Idee eines Singwochenendes begeistern und anstiften lassen. Loni ist eine erfahrene Singleiterin und Jodlerin, die wirklich jeden motivieren kann. Schon als Kind hat Loni von ihrem Vater das Jodeln gelernt, es ist sozusagen ihre musikalische Muttersprache und sie kann dies auch wunderbar vermitteln. Sie hat uns in die Geheimnisse der Allgäuer Jodellautierung eingewiesen, die diesen Jodlern einen ganz eigenen Sound verleihen. Bis 2019 hat Loni unseren Kurs begleitet und geprägt und die Jodelbegeisterung bei den Teilnehmern nachhaltig geweckt. Nach der zweijährigen Coronapause ist sie nicht mehr mit eingestiegen und hat den Stab an uns weitergegeben.
Mit im Boot bzw. auf dem Berg ist jetzt mein Kollege vom Bezirk Schwaben, Christoph Lambertz. Zusammen mit Eva Horner, einer erfahrenen Singleiterin aus Lauingen, ist unser Dreierteam für alle Singgelegenheiten gut aufgestellt: Jodler, klangvolle Lieder, lustige Wirtshauslieder, Couplets und auch geistliche Volkslieder gehören zu unserem Repertoire. Jeder hat seine Stärken und Vorlieben und so können wir ein vielfältiges Liedprogramm anbieten. Der Vorteil unseres gemischten Teams ist auch, dass wir so die Mehrstimmigkeit gut unterstützen können. Denn nicht nur Auswendigsingen ist unser Anliegen, sondern auch auswendig eine andere Stimme dazu zu singen – eine zweite Stimme, den Bass oder eventuell sogar eine dritte Stimme. Das ist gar nicht so schwer, wenn man es einmal verstanden und ausprobiert hat und dies ist ja auch der große Reiz der bayerischen Volkslieder.
Was ist der Grundgedanke beim Bergsingwochenende?
Ich wollte einmal wirklich Zeit haben, intensiv zu singen und auswendig Lieder zu lernen. Zeit dafür bleibt auf anderen von uns veranstalteten Kursen immer knapp, da ja auch das Musizieren und Tanzen ihren Raum brauchen. Was liegt also näher, als eine Gelegenheit zu schaffen für diese Lust am Singen und für die Möglichkeit, Lieder für sich selber zu entdecken und neue Klänge auszuprobieren. Einzige Voraussetzung ist der eigene Spaß am Singen. Wahnsinnig spannend ist für viele auch die Möglichkeit, einmal das Jodeln zu probieren. Singen und Jodeln sollte nicht nur als verschulter Akt irgendwo in einem Klassenzimmer stattfinden. Viel reizvoller und ergreifender ist es doch als Erlebnis in den Allgäuer Bergen, in einer Berghütte oder bei einer Wanderung.
Das geht natürlich nur ohne Noten, Liedblätter würden hier nur stören. Diese Art des Singens – auswendig und über das Gehör – ist anstrengend, aber auch sehr viel intensiver, wenn man sich darauf einlässt. Lieder lassen sich durch Vorsingen einfach anders vermitteln, weil ein Lied durch die Interpretation des Vorsängers oder der Vorsängerin so lebendig wird, wie man das nie aus Noten ablesen könnte. Man erlangt beim Singen eine ganz andere Freiheit und kann ganz anders Kontakt mit seinen Mitsängern halten. Es passt buchstäblich kein Blatt Papier dazwischen. Man kann einfach ganz Ohr sein. Lieder, die man so gelernt hat, hat man immer dabei, im Kopf und im Herzen. Auf diese Weise kann man sich seinen ganz persönlichen Liederschatz zusammentragen, denn natürlich hat jeder seinen ganz eigenen Geschmack.
Jodler vom Johann
Singen, jodeln kochen – wie geht das zusammen?
Über die Jahre haben wir das Konzept bzw. den Ablauf immer wieder verändert und nachjustiert. Die Grundidee des intensiven Liederlernens und Jodelns ist aber immer geblieben. Am Anfang stand ja die romantische Idee, auf einer Berghütte nicht nur das Singen mit allen Sinnen zu erleben, sondern auch sich selbst zu versorgen, d. h. auch selbst zu kochen. Loni hat also nicht nur den Kursteilnehmern das Jodeln beigebracht, sondern auch noch Riesentöpfe voller Kässpatzen gezaubert, die wirklich ausgezeichnet geschmeckt haben. Allerdings war das Abspülen dann weniger romantisch, trotz der Küchenlieder, die hier als zusätzlicher Programmpunkt vorgesehen waren. Insgesamt war der logistische Aufwand dann doch zu groß und so haben wir uns nach einigen Jahren ein Haus mit Verpflegung gesucht und mit der Kahlrückenalpe oberhalb von Ofterschwang die optimale Lösung gefunden. Wir werden wunderbar versorgt und können uns so ganz ums Singen und Jodeln kümmern. Das können wir, ehrlich gesagt, auch besser.
Das Bergsingwochenende – viel mehr als nur Singen!
Das Interesse am Bergsingwochenende ist nach wie vor sehr groß. Viele reizt die Verbindung von Singen, Jodeln und Wandern – die einen wollen einmal probieren, wie das mit dem Jodeln denn geht, die anderen haben Lust, in netter Gesellschaft neue Lieder zu lernen. Die Bandbreite an sängerischem Können ist sehr groß, vom erfahrenen Chorsänger bis zum Sänger, der sich nur daheim unter der Dusche so richtig traut. Viele kommen auch über die Jodelkurse von Loni Kuisle zum Bergsingwochenende. Dort wird häufig die Lust geweckt, sich noch intensiver damit zu beschäftigen und zu lernen. Bei schönem Wetter sind wir deshalb auch den ganzen Samstag draußen unterwegs und bei wunderbarem Ausblick auf die Allgäuer Bergwelt fällt es leicht, seine Stimmbänder mal in der ganzen Bandbreite auszuloten – von der tiefen Bruststimme bis zur hohen Kopfstimme. Für viele ist das oft ganz neu und ungewohnt. Auch mal etwas zu wagen, mit dem Risiko, dass es zunächst nicht ganz so schön klingt. Einfach mal zu probieren und mit der eigenen Stimme zu spielen. Scheitern ist hier ausdrücklich erlaubt und in der großen Gruppe fällt es meistens gar nicht auf, wenn mal ein Ton nicht ganz getroffen wird. Die Gruppe ist auch Stütze für die Unsicheren, die auf diese Weise einmal eine zweite Stimme oder einen Bass ausprobieren können. Man stellt sich einfach neben einen, der es sicher kann. Das sorgt bei dem ein oder anderen für so manches Aha-Erlebnis und ein Lächeln im Gesicht.
Es ist immer wieder erstaunlich, welchen Klang man so schon nach kurzer Zeit mit einer zusammengewürfelten Gruppe erzeugen kann. Am Ende des Tages stehen immer mehrere neu gelernte, mehrstimmige Jodler, die wir dann über die Berggipfel schicken können.
Man kann nie genug Lieder haben
Eine weitere Grundidee des Bergsingwochenendes ist es auch, voneinander neue Lieder zu lernen. Die Teilnehmer sind deshalb aufgerufen, Lieder mitzubringen und den Anderen beizubringen. Das klappt mal mehr, mal weniger und hängt natürlich sehr von der Teilnehmerstruktur ab. Auf jeden Fall ist es ausdrücklich erlaubt, das Liedprogramm mitzugestalten. Deshalb darf man sich auch Lieder wünschen. Am Samstagabend sind dann diesem Wunschkonzert keine Grenzen gesetzt. Hier ist auch die Gelegenheit, die Lieder, die untertags und auch bei vorangegangenen Kursen gelernt wurden, zu wiederholen. Eva Horner, Lehrerin und erfahrene Sängerin aus Lauingen und die Dritte in unserem Referententeam, ist an diesem Abend die Tonangeberin. Mit ihrem umfangreichen Liedrepertoire bringt sie so schnell kein Liedwunsch in Verlegenheit. Wenn wir die Teilnehmer nach so einem Wochenende mit einem Kopf voller Lieder, dem ein oder anderen Ohrwurm oder einem persönlichen Lieblingslied nach Hause schicken können, haben wir unser Ziel erreicht. Und noch mehr freut es mich, wenn ich erzählt bekomme, dass die Lieder auch zu alltäglichen Begleitern werden und die Lust zu singen immer präsent bleibt. Wie wunderbar, denn Singen macht glücklich!
Aufmacherbild

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