Text: Simon Wascher Foto: Stephan Mussil
Wer schon selbst Melodien erfunden hat, kennt vielleicht auch den Moment der Entdeckung, dass es das gerade Komponierte eigentlich schon gibt. Im Moment der Schöpfung der Melodie war man sich sicher etwas Neues geschaffen zu haben, aber nun stellt sich heraus, dass man selbst, ohne es zu wissen eingebettet ist in einen umfassenderen Kontext.
Prinzipiell gibt es ja drei Möglichkeiten wie es dazu kommen kann, dass Melodien übereinstimmen:
- Kontinuität, also Tradierung oder
- Konvergenz, also Gleichartigkeit hervorgerufen durch gleiche Rahmenbedingungen oder
- Koinzidenz, also Zufall
Als Tradierung wird in der Regel die ununterbrochene Weitergabe einer Melodie von einem Ohr zum nächsten bezeichnet, so wie im Spiel Stille Post. Tradierung ist aber schwer belegbar, weil ja die Weitergabe kaum je wirklich dokumentiert ist, insbesondere in der Vergangenheit, wenn die Beteiligten nicht mehr gefragt werden können. Trotzdem wird sie aber meist stillschweigend angenommen, sobald die Quellen benachbart sind.
Auch können Tradierungen wie im Spiel Stille Post zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen, so wurde aus dem Wort »Automobil« im Deutschen »Auto« und im Schwedischen »Bil«.
Konvergenz und Zufall unterscheiden sich wiederum nur durch die Enge der Rahmenbedingungen, auch zufällige Gleichheit hat gleiche Rahmenbedingungen, etwa Naturgesetze. Zufall in der Musik wird begrenzt von der Übereinstimmung der Mittel (Tonleitern, Tonschichtungen / Akkorde, Puls, Formenbau) die wir der Kognition Musik zuordnen. Zumindest bei Form, Tonumfang und Dauer üblicher Tanzmelodien ist die Anzahl der möglichen Melodien daher einfach beschränkt.
Zur Konvergenz
Als typisches Beispiel für Konvergenz möchte ich auf die Limitierungen des diatonischen Akkordeons verweisen, auf welchem bestimmte Auswahlen von Tönen und Bässen nur abwechselnd auf Zug oder Druck erzeugt werden können: Die Regeln der klassischen Harmonielehre sind dabei fest eingebaut. Wo auch immer wer auch immer so ein Instrument in die Hand nimmt, ist an diese Rahmenbedingungen gebunden, die entstehenden Melodien ähneln einander deshalb.
Ob gleiche Melodien mehrfach von verschiedenen Menschen geschaffen wurden, oder doch von einem einzelnen Urheber ausgehend von dort nach da tradiert wurden, ist eine interessante Frage: Sowohl weiträumige Tradierung wie auch zufällige Entstehung an verschiedenen Orten stehen in Konflikt mit der Vorstellung einer Einmaligkeit der Melodien lokal beobachteter Volkskultur. Wenn die Melodien überall verbreitet sind, warum auch immer, sind sie eben keine Besonderheit einer speziellen Gruppe von Menschen. Viel mehr könnten sie eventuell Belege weiträumiger Kontakte sein, sei es durch Arbeitsmigration, militärische Rekrutierungen und Einquartierungen, Handelsbeziehungen, Tourismus.
Die Rolle der Tempi
Zugleich ist aber auch das Tempo der Ausführung einer Melodie entscheidend dafür, wie wir eine eigentlich gleiche Tonfolge hören. Dieselbe Melodie als Schleuniger rasch gespielt oder als Jodler langsam gesungen ergibt zwei völlig verschiedene musikalische Erfahrungen. Das hat auch mit den Grundlagen des Hörens zu tun.
Mein drittes Beispiel ist eine Melodie, die als Lied, Tanz und Vokalise (Jodler) Eingang in das Repertoire gefunden hat [siehe ’S is a’ Freud, oben].
Wernn des morgens ÜA_web
Es ist also neben dem Kontext auch die Ausführung, die aus einer Melodie das Stück macht, das wir wiedererkennen. Volksmusik spielen bedeutet also nicht so sehr bestimmte Melodien vorzutragen, sondern Melodien auf bestimmte Art vorzutragen. Aber: diese bestimmte Art — das wirklich Wichtige — steht nicht in den Noten: Intonation, Klangfarbe, Zusammenklänge, Oktavlagen, Tempi und deren Änderungen, Rhythmik, Agogik, Rubato, Timing, Phrasierung, Klangrede, Variation, die Auffassung davon, wie Musik funktioniert, die Beziehungen der musikalischen Elemente, die Organisation und Steuerung der musikalischen Abläufe, wer darin wann warum was vorgibt oder befolgt.
Der Stil, den man selbst dabeihat, der ist das Übliche, das eingeübte, selbstverständliche. Aus der Aufzählung, was Stil ausmacht, geht aber auch hervor, dass Musizieren ohne Stil gar nicht möglich ist. Irgendeine Intonation, Rhythmik, Vorstellung vom eigenen musikalischen Tun haben ja alle. Im Normalfall wird Musik im Ganzen geliefert und kommt aus der eigenen sozialen Gruppe von Musizierenden. Man lernt aneinander, als Schüler und gemeinsam. Wenn es gilt eine Melodie aus einem Heftl als Landler, Schleuniger oder Jodler zu spielen, muss man sie also mit Leuten spielen, die Landler, Schleunige oder Jodler können und ihnen geduldig alles abhorchen, sonst wird’s vielleicht ein Walzer oder Blues. Auch nicht schlecht, aber was anderes.
Zum Autor
Simon Wascher (*1966) ist mit volksmusikalischer Familientradition in Kremsmünster (Oberösterreich) aufgewachsen und lebt heute in Wien. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt im Bereich Interpretation traditioneller Musik auf der Drehleier, insbesondere beschäftigt er sich mit Quellen und Traditionen aus Österreich und dem gesamten deutschen Sprachraum und auch mit historisch informierter Aufführungspraxis des 17. bis 19. Jahrhunderts. Weitere Schwerpunkte bilden die traditionelle Musik Zentralfrankreichs und Schwedens. Als Musiker, der Konzerte in ganz Europa gibt, war bzw. ist er Mitglied bei Rundgeiger, bilwesz, 3PO, Schikaneders Jugend, Hotel Palindrone, dem Trio WHA, er spielt in der Band von Patrick McMullan, mit Hermann Fritz oder Hermann Haertel jun. im Duo sowie in der Formation Alpenland meets Ostseestrand. Er ist gefragter Dozent bei Kursen für Drehleier, Ensemblespiel und Tanz. Wascher war 1993–2001 künstlerischer Leiter des BodunMusikFestes Kremsmünster und Mitbegründer des KlangRauschTreffens und des Alpen-KlangRauschs.
0 Kommentare