Alle zwei Jahre putzt sich die alte württembergische Grafenstadt Urach festlich heraus; Gäste schmücken sich mit Ledernesteln und die Honoratioren der Stadt holen den schwarzen Anzug aus dem Schrank – für den Höhepunkt eines wunderbaren Festes: In einem Wettlauf küren die Schäfer ihren König und ihre Königin. Außer der Ehre gibt’s für die Hoheiten je einen ausgewachsenen Hammel.
Text: Wulf Wager Fotos: Thomas Niedermüller, Uwe Hihn, Rudi Ruopp, Archiv Wager
Seit 1446 treffen sich die württembergischen Schäfer einmal jährlich zu einem Zunfttag in Markgröningen, dem ehemaligen Sitz der Hauptlade der Schäferzunft. Früher wurden dabei junge Schäfer aufgenommen, Steuern und Abgaben bezahlt, über Fehltritte wurde zu Gericht gesessen, Markt gehalten und ein Wettlauf um die Ehre des Schäferkönigs und der Schäferkönigin veranstaltet.
Alljährlich am Bartholomäustag, dem Schutzheiligen der Hirten (24. August) reisten Schäfer, Meister und Knechte aus allen württembergischen Landesteilen nach Markgröningen und mussten ihre Herden oft wochenlang allein lassen. Nach mehreren vergeblichen Anläufen der Schäferzunft teilte Herzog Eberhard Ludwig 1723, also vor genau 300 Jahren die Markgröninger Hauptlade in eine Haupt- und drei Nebenladen, also Unterorganisationen der Hauptzunft. Damit entstanden auch drei weitere Schäferfesttage in Urach, Wildberg und Heidenheim. Während die Stadt Markgröningen mit dem Sitz der Hauptlade alljährlich zum Run auf den Hammel einlädt, feiern die drei anderen Städte nur alle zwei Jahre. In Urach ist der Schäferlauf immer in den ungeraden Jahren am Wochenende um Jakobi, dem 25. Juli.
Achtung und Ehre den Schäfern
1724 wurde in Urach der erste Schäfertag gehalten. Über 200 Schäfer lauschten damals der Rede des Vogtes. Dieser hofierte sie mit den Worten, dass seit der Erschaffung der Welt das Schafhirtenamt die vornehmste und gemeinste Hantierung sei, dass in alten und neuen Zeiten Könige und Kaiser sich selbst der Sorge, der Wart und der Hut der Schafe unterzogen hätten, dass von der Schafhaltung viel Nutzen zu verzeichnen sei und dem Schäferberuf Achtung und Ehre gebühre. Mit Achtung und Ehre hatten die Schäfer allerdings nicht zu jeder Zeit etwas am Hut, weisen doch viele Ratsprotokolle in fünf Jahrhunderten auf Händel und Schlägereien, öffentliche Besäufnisse und ungenehmigte Tanzveranstaltungen hin. Sicher fand auch manch unerlaubtes Schäferstündchen statt …
Folkloristisches Flair und Handwerkstradition
Die enge berufliche Zusammenarbeit der Schäfer mit den Metzgern und Viehhändlern verschaffte den Schlächtern verschiedene Privilegien beim Uracher Schäferfest. Es führte sogar so weit, dass nach der Auflösung der Schäferzunft als berufsständischer Organisation 1828 durch den württembergischen König Wilhelm I. die Metzger und Viehhändler zusammen mit der Stadt Urach die Ausrichtung des Schäferlaufs übernahmen. Noch heute gehen die Metzger in der ordnenden Funktion der Kreisreiter an der Spitze des Festzuges zum Schäferlauf und haben das Recht zu den Ehrentänzen. Sie haben sich auch noch alte Volkstänze bewahrt, die nicht von der Volkstanzpflege schöngetanzt wurden: den Metzgertanz, eine Mazurka und den Bechertanz, ein Geschicklichkeitstanz.
Dem eigentlichen Festtag geht ein Vergleich der Schäferinnen und Schäfer im beruflichen Bereich voran. Beim Leistungshüten müssen Schäfer und Hund in kniffligen Situationen beweisen, dass sie ein eingespieltes Team sind, denn den scharfäugigen Wertungsrichtern entgeht nichts.
Die Stadt befindet sich in angespannter Aufgeregtheit. Schnell wird noch das Trottoir gefegt, während die Metzgerpaare zu den Klängen der behäbig spielenden Schäfermusik, einer kleinen Blasbesetzung, vor den Häusern honoriger Bürger schon ein paar Ehrenrunden drehen. Es erklingt der alte sehr getragen gespielte Uracher Schäferlaufmarsch in seiner eigentümlichen 11-taktigen Melodie. Ihn hört man seltener. Häufiger wird die Erkennungsmelodie des Schäferlaufs, der Martha-Marsch nach Themen aus der Oper Martha aufgespielt.
Uracher Schäferlaufmarsch
Musik und Tanz
»Ein Schäfer muß auch auf einem Blas-Instrumente spielen können, nicht des alten Wahns wegen, daß die Schafe mehr durch die Musique, als durch das Weiden und durch das Futter sollen fett werden, sondern deswegen, weil die Schafe (wie die Erfahrung bestätiget) vor andern Thieren, insbesonderheit die Musique lieben: sie gedeyen davon ungemein, und werden dadurch sehr munter. Ausserdem ist es dem Schäfer sehr bequem, mit der Flöte seine Heerde commandieren zu können: wie auch die ausländischen Schäfer thun, die mit gewissen Stückchen auf ihrer Sackpfeifen sie zusammen halten, selbige an sich rufen, und wieder wegtreiben.« So schildert Friedrich Wilhelm Hastfer seine Beobachtungen im Jahr 1785, ein Beleg, dass Musik und Schäferei schon damals in enger Harmonie verbunden waren. Davon zeugen viele Schäferlieder und auch die Schäfertänze. Gerade beim Uracher Schäferlauf wird die Verbindung erlebbar.
Wenn auch die Sackpfeife in Urach nicht mehr gespielt wird, so ist sie in Markgröningen noch immer präsent als jahrhundertealtes Instrument der Schäfer. Noch im 19. Jahrhundert gehörte die Weilheimer Schäfermusik mit ihren Sackpfeifen zum Uracher Ritual. Allerdings wurde sie als eine »die Ohren beleidigende Musik von Schalmeien, Querpfeifen und Dudelsäcke« bezeichnet. Sie wurde 1848 abgelöst von Militärmusikkapellen. Aus deren Repertoire hat sich nur der alte Schäfermarsch im langsamen Dreivierteltakt erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Blaskapelle des Stadtmusikus Scherzler durch, der den Martha-Marsch etablierte. Er orientiert sich am Trabmarsch aus der Oper Martha von Friedrich von Flotow (1812–1883), entspricht ihm aber nicht zu hundert Prozent. Bis heute ist der Marsch die Schäferlaufmelodie schlechthin.
Festzug in die Kirche
Am Sonntagmorgen sind dann alle Buden abgebaut. Nichts erinnert mehr an eine durchfeierte Nacht. Die Stadt braucht jetzt Platz für den Festzug und die vielen Menschen, die mit den Schäfern feiern wollen. Schon um fünf Uhr morgens krachen die Böller von der hoch über der Stadt thronenden Ruine Hohenurach.
Der Festtag beginnt mit einem kleinen Festzug, der geradewegs zu einem Gottesdienst in die evangelische Amandus-Kirche führt. Nachdem der Segen von oben eingeholt wurde, geht der Festzug weiter zum fachwerkgezierten Rathaus, wo mit der Übergabe der Schäferlade und der historischen Schäferfahne auch der weltliche Segen erfolgt. Der Bürgermeister eröffnet die Ehrentänze mit einem Metzgermädchen zum Walzertakt. Dem folgt eine Mazurka, der Metzgertanz der ledigen Metzgersöhne und Metzgermädchen, die mit bunten Bändern festlich aufgeputzt sind. Danach setzt sich ein langer farbenprächtiger ländlich geprägter Umzug mit traumhaft schönen Festwagen, allesamt von Pferden gezogen, in Bewegung. Trachtengruppen aus der näheren Umgebung, landwirtschaftliche Darstellungen, Schafe, Gänse, Esel und die Zurschaustellung aller Facetten der Schäferei machen diesen Umzug, zu einem einzigartigen Erlebnis. Ziel ist die Zittelstatt, der historische Festplatz vor den Toren der Stadt.
Wettlauf der ledigen Schäferinnen und Schäfer um die Königswürde.
Ein Gockel für die geschicktesten Tänzer
Bevor jedoch der Höhepunkt stattfinden kann, der dem Fest seinen Namen gibt, der Wettlauf der Schäferinnen und Schäfer, haben die Metzger erneut das Recht des Tanzens. Sie zeigen nochmals ihren Metzgertanz und den eigentümlichen Bechertanz. Bei diesem Geschicklichkeitstanz kann das gewandteste Paar einen bunt gefiederten lebenden Hahn gewinnen, der im Festzug mitgetragen wurde. Im ersten Durchgang hebt der Tänzer seine Tänzerin unter einem Galgen in die Höhe. Dabei versucht sie, mit dem Kopf ein an dem Galgen hängendes, auf einem Tablett stehenden Wasserbecher umzustoßen. Im zweiten Durchgang stemmt die Tänzerin den Tänzer in die Höhe und das punktgenau auf eine ganz spezielle Fermate der Schäfermusik. Der Gockel geht als Preis an das Paar, das die Aufgabe am schönsten meistert, ohne selbst nass zu werden.
… und zwei Hammel für das Königspaar
Mittlerweile sind die Läuferinnen und Läufer für den Wettkampf gerüstet. Wenn der Vorreiter, der ebenfalls von den privilegierten Metzgern gestellt wird, den Lauf startet, beginnt das Rennen der ledigen Schäferinnen und Schäfer um den Hammel und vor allem um die Ehre, König und Königin der Schäfer zu sein. Die kurzbehosten und -berockten jungen Leute rasen mit wehenden Haaren über die Zittelstatt.
Als Insignum ihrer Würde werden Sieger und Siegerin gekrönt und mit dem stahlblauen Königsmantel umschlungen. Jeweils ein Hammel ist der Lohn für die schweißtreibende Raserei. Das blökende Tier stellt für die Gewinner einen wertvollen Preis dar, denn zum Schäferlauf zugelassen sind ausschließlich Töchter und Söhne von Schäfern und Schafhaltern aus Baden-Württemberg.
Beim Schäfertanz formieren sich die Paare in kompliziert choreographierten Tanzfiguren zu ständig wechselnden Kreisen, Quadraten und Sternen – vor den Augen der frisch gekrönten Häupter, die mit dieser höchst sportlichen Leistung geehrt werden. Der Schäfertanz ist in den 1920er-Jahren dem Rothenburger Schäfertanz abgeschaut worden. Dazu erklingt die Halltaler Polka, eine tiroler Melodie.
Ob Schäferkönigin und Schäferkönig ihre würdevollen Kronen auch für die alltägliche Schafhut ab und zu vom Regal holen, bleibt offen. Am Abend ihres Triumphs müssen sie jedenfalls keine Schäfchen zählen, um in den Schlaf zu finden.
Metzgertanz – ungepflegter Volkstanz
0 Kommentare