Die Lance

Rekonstruktion einer Quadrillen- Form aus dem 19. Jahrhundert

21. August 2024

Lesezeit: 7 Minute(n)

Text: Christoph Lambertz Fotos: Stadtarchiv Aichach, Sabine Dauber

Die Geschichte beginnt im Februar 2016, als wir in der Beratungsstelle für Volksmusik des Bezirks Schwaben von Christoph Lang, dem damaligen Stadtarchivar von Aichach und heutigen Bezirksheimatpfleger, diese E-Mail erhielten:

»Heute habe ich eine Kiste mit einigen jüngeren und älteren Unterlagen zur Stadtgeschichte Aichachs bekommen. Mit dabei waren auch zwei handgeschriebene Gehefte, die Tanzbeschreibungen von Lance und Francaise enthalten.

Das eine Heft ist mit ›Lance et Francaise‹ betitelt, rechts unten ist die Angabe des Schreibers/Besitzers ›A. Boesmiller‹. Es dürfte sich dabei um den Aichacher Rentamtsoberschreiber Albert Boesmiller (Bösmüller) handeln, der 1836 in Aichach geboren und 1907 in Aichach gestorben ist. Von 1855 bis 1907 war er im Übrigen Mitglied der Aichacher Liedertafel. Bei den Veranstaltungen der Liedertafel wurde natürlich auch getanzt. Im Januar 1875 veranstaltete die Liedertafel beispielsweise einen Unterhaltungsabend mit Tanz, bei dem u. a. 5mal Francaise gespielt wurde. […]

Beide Hefte weisen den selben Schreiber sowie deutliche Benutzungsspuren aus und enthalten spätere Nachträge. Die beiden Gehefte unterscheiden sich z. T. in ihrer inhaltlichen Ausführlichkeit.«

Ein Zufallsfund

Scans der Hefte ließ mir Stadtarchivar Lang auch noch zukommen. Auf den ersten Blick war ihr Inhalt bereits vielversprechend. Im ersten Heft werden auf den ersten neun Seiten vier Touren einer Lance beschrieben, auf den Seiten 10 bis 12 sechs Touren einer Française. Im zweiten Heft wird in derselben Handschrift auf elf Seiten ebenfalls die Lance beschrieben. Unsere Mitarbeiterin Heidi Rietzler, die damals ein freiwilliges soziales Jahr bei uns absolvierte, übernahm die anspruchsvolle Aufgabe, die Handschriften zu transkribieren. Es waren große Anstrengungen und Ausdauer nötig, um den in deutscher Kurrentschrift verfassten Text, der mit französischen Tanz-Fachausdrücken in lateinischer Schreibschrift durchsetzt ist, zu entziffern.

Bei weiteren Recherchen stieß Christoph Lang auf eine Quittung des Aichacher Stadttürmers Binder aus den 1880er Jahren, die belegt, dass Binder von der Liedertafel für die Musikbegleitung einer Tanzprobe der Lance entlohnt wurde. Das Instrument, mit dem er zur Probe gespielt hat, wird leider nicht genannt, es muss sich aller Wahrscheinlichkeit nach aber um ein Klavier gehandelt haben. Leider finden sich in der umfangreichen Notensammlung des Aichacher Gesangsvereins keine Noten für Française und Lance. Diese müssen wohl im Besitz des Stadtmusikanten gewesen sein.

Bösmiller bei Liedertafel 1895
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Lance? Lancier? Was ist das?

Im 19. Jahrhundert waren in bürgerlichen Kreisen unterschiedlichste Quadrillen-Formen in Mode. Eine davon ist die Française, die bis heute bekannt und beliebt ist. Die Française unterscheidet sich von den anderen Quadrillen, indem bei ihr nur zwei Paare zusammen tanzen und sich die Tanzenden in langen Reihen aufstellen. Sonst braucht man für eine Quadrille vier Paare, die sich im Karree aufstellen, so z. B. auch bei der einst weit verbreiteten Lancier-Quadrille. Die einzige in Bayern überlieferte Lancier wurde in Oberstaufen im Allgäu bis in die 1970er-Jahre immer am Fastnachtsdienstag getanzt. Dagmar Held von der Forschungsstelle für Volksmusik in Schwaben ließ sich 1990 von Gewährspersonen, die sich an die Abfolge der Tanzfiguren noch genau erinnern konnten, die Lancier vortanzen und zeichnete sie auf. Als Grund, warum man das Tanzen der Lancier aufgab, wurde genannt, dass der Tanz zum einen recht anspruchsvoll ist und es zum anderen schwierig war die richtige Anzahl von Tänzern zusammen zu bekommen. Die Française hingegen wird dort bis heute am Fastnachtsdienstag getanzt.

Die Lancier nannte man in Oberstaufen Lance. Deshalb nahm ich an, dass es sich bei Lance um eine eingedeutschte oder mundartliche Aussprache von Lancier handelt. Als ich nun die Tanzbeschreibung aus Aichach mit der aus Oberstaufen verglich, wurde mir gleich klar, dass es sich um ganz unterschiedliche Tanzformen handelt. Die Lance aus Aichach hat nur vier statt der üblichen fünf Touren, die Touren sind länger und setzen sich überwiegend aus anderen Tanzfiguren zusammen.

Ein Blick in das Buch Historische Volkstänze in und um München von Ingeborg Heinrichsen (München, 2001) verschafft Klarheit. Heinrichsen hat als Quelle Die Tanzkunst, kulturhistorische Skizze mit Tanz-Lexikon. Die Contratänze und Quadrillen. von A. Diringer, erschienen 1889 in München, ausgewertet:

Quadrille à la cour (Les Lanciers)

»Obwohl Diringer in seinem Tanzlehrbuch ›Die Tanzkunst‹ drei Beschreibungen zu ähnlichen Titeln liefert, nämlich ›Lance, Quadrille à la cour (Les Lanciers)‹ und ›Les Lanciers‹, verdeutlicht er selbst, dass es sich nur um Vorläufer oder Varianten ein und desselben Tanzes dreht. Dieser Tanz ist ein Kontratanz für vier Paare, die auf den Seiten eines Quadrates aufgestellt sind. Die Aufstellung entspricht also der Contredanse franҫaise, bzw. dem Cotillon, sowie den englischen Squares oder den bis heute in Norddeutschland getanzten Vierpaartänzen. Genau genommen handelt es sich dabei nicht nur um einen Kontratanz, sondern um eine Tanz-Suite von (vier bis) fünf Tänzen, die bei Diringer zwar alle ihre eigenen Namen haben, aber auch als Touren bezeichnet werden, so wie es auch bei der Quadrille franҫaise, der sogenannten ›Franҫaise‹ gehandhabt wird.

Die Beschreibungen von Quadrille à la cour und Les Lanciers sind bei Diringer fast identisch, während die Lance von der gewohnten Ausführung der Tanz-Suite abweicht. Sie hat nur vier Touren …

Diringer berichtet im Vorspann: ›Die Lance ist ein schottischer Hochlandtanz, und die Grundlage aller Quadrillen, Contretänze und der Lancier, welche aus ihr hervorgegangen sind. Um bei der Lance den erforderlichen Effekt zu erzielen, müssen vier Quarré zu je acht Personen sich am Tanze betheiligen.‹«

(Heinrichsen, Ingeborg: Historische Volkstänze in und um München, München (Preissler) 2001, S. 109)

 

Bei meinen weiteren Recherchen stieß ich auf ein Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek: Beschreibung der Lance-, Lanciers- und Francaise-Quadrillen für Schüler und Schülerinnen von Edmund Delonge, gedruckt 1858 in Augsburg. Meine Freude war groß, als ich feststellte, dass ich damit die Vorlage entdeckt hatte, von der der Aichacher Bösmüller abgeschrieben hatte. Mit Hilfe des Druckes ließen sich nun noch unklare Stellen in der Handschrift entziffern. Zudem wurde erkenntlich, dass Bösmüller der Tanzbeschreibung noch persönliche Erklärungen beigefügt hatte. Dies war für die Rekonstruktion sehr hilfreich.

 

Deckblatt der Beschreibung der Lance-, Lanciers- und Francaise-Quadrillen für Schüler und Schülerinnen von Edmund Delonge, 1858 [Bayerische Staatsbibliothek]

 

Die Rekonstruktion

Mittlerweile hatte sich in Aichach eine Frauentanzgruppe der Lance angenommen. Stadtarchivar Christoph Lang hatte unsere Transkription der Stadtführerin Sabine Dauber weitergereicht. Sie leitet eine Gruppe, die sich zum orientalischen Tanzen trifft. Statt mit morgenländischem Hüftschwung beschäftigten sich die Frauen nun an vielen Abenden mit dem bürgerlichen Gesellschaftstanz des 19. Jahrhunderts. Dagmar Held und ich besuchten die Gruppe ein paar Mal und beteiligten uns an den Diskussionen, wie die ein oder andere Formulierung der Tanzbeschreibung in der Praxis umzusetzen sei. Als Tanzmusik diente vorerst eine Aufnahme der Melodie zur Lancier aus Oberstaufen. Da diese aber von der Länge her überhaupt nicht passte und in Aichach auch kein historisches Notenmaterial überliefert ist, machte ich mich auf die Suche. Glücklicherweise stieß ich auf eine viertourige Quadrille von Anton Bruckner (WAB 120). Bruckner hat sie um 1850 für Klavier geschrieben und darin auch Motive aus beliebten Opern wie Zar und Zimmermann von Lortzing oder der Regimentstochter von Donizetti verarbeitet. Überschrieben ist sie mit Lancier-Quadrille. Laut Bruckner-online-Lexikon lautet der Titel im Autographen jedoch »Lancer Quadrille«, was später wohl zu Lancier-Quadrille umgedeutet wurde. Die Länge der Touren und die Tatsache, dass die Quadrille aus vier statt fünf Touren besteht, sind eindeutige Beweise, dass es sich hier um die Musik zu einer Lance handelt. Das war nämlich die nächste große Freude: der rekonstruierte Tanz und die Quadrille von Bruckner passen perfekt zueinander. (Lediglich in einem Teil musste ein Wiederholungszeichen um acht Takte versetzt werden, um auf die passende Länge zu kommen.) Somit war eine Musik gefunden und wir fanden uns darin bestätigt, dass wir mit der Rekonstruktion nicht danebenlagen. Mittlerweile hat unsere diesjährige Freiwillige Liza Lozovskaia eine Aufnahme der Bruckner-Quadrille im richtigen Tanztempo auf einem Flügel eingespielt.

Tanzproben der Lance

Die rekonstruierte Lance kann nun erstmals bei einem Tanzkurs öffentlich vorgestellt werden. An drei Mittwochabenden im Herbst, beginnend mit dem 16. Oktober, gibt es in Aichach die Gelegenheit Figuren wie die Grande châine, die Schiefen Linien und den Stern mitzutanzen. Und vielleicht ergibt sich aus dem Zufallsfund im Stadtarchiv Aichach aus dem Februar 2016 in Zukunft noch manch andere Aktion …

Tanzkurs Lancier-Quadrille

Mittwoch, 16. Oktober, 23. Oktober und 6. November, 20.00 Uhr

Grundschule Nord, Mozartstraße 1, 86551 Aichach

Leitung: Sabine Dauber und Christoph Lambertz

Anmeldung: volksmusik@bezirk-schwaben.de

Auszüge aus Albert Boesmiller Tanzbeschreibung

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