Ich bin in Furth im Wald aufgewachsen, mit einem sehr bösen Drachen aus dem Osten, aus der Tschechoslowakei, damals hermetisch und tödlich durch eine Staatsgrenze verschlossen, das war prägend. Diese Grenze ist nach ihrer Öffnung 1990 plötzlich ganz einfach zu passieren, das Land und die Menschen dahinter, die Tschechen, können besucht werden, es ist jetzt Vieles ganz anders und sehr interessant und es wächst schnell die Erkenntnis, dass Grenzen unnötig sind. Das Thema bewegt mich und ich starte nach vielen Vorarbeiten 2014 eine Reportage mit Fotoapparat, Mikro und Kuli, um die Grenze wegzubewegen, die in den Köpfen. Ein sehr hoher Anspruch, aber ich werde Viele treffen, die ähnlich denken und handeln und Viele, die mich dabei unterstützen.
Das verbindende Moment
Nach zehn Jahren Recherche und vielen PKW-Kilometern ist der Fotoband einschließlich dem Thema Musik und Musikanten abgeschlossen. Musikgruppen zu fotografieren, erschien mir einfach, aber ständig kommen Erfahrungen hinzu, auch Probleme, auch der Vorschlag »Die Tschechen nach links, die Bayern nach rechts« bei einer Veranstaltung in Furth im Wald. Nein, genau das nicht! Denn das Verbindende, das gemeinsame Musizieren und Singen galt es durch ein Unterhaken auch optisch zu symbolisieren. Das war nach wenig Überredung möglich und ich war froh über die folgende Begeisterung und die kleine Grenzüberschreitung für alle und gar nicht schwierig. Aber interessant ist, wie langsam Gewohnheiten schwinden, eine andere Form von Begrenzung.
Der Sound des Westens
Ab dem Zweiten Weltkrieg war die Tschechoslowakei von der Sowjetunion besetzt. Erst im November 1989 siegt die Demokratie, die Besatzungszeit endet und die Tschechische Republik konstituiert sich Jahre später. Eine Form des Protests während der Fremdherrschaft war die Sehnsucht nach dem Westen, nach den USA. Und das wurde an den Wochenenden gelebt mit Zelt, Lagerfeuer und Wanderungen im Böhmerwald, mit Gitarren und der Countrymusik, mit den Songs von Bob Dylan, Kris Kristopherson und Jonny Cash, mit den Hymnen des Rock’n’Roll und natürlich mit Stücken der großen Bands, den Beatles, Cream, Pink Floyd und Rolling Stones.
Der Kraft und Tiefe dieser Musik konnte sich niemand entziehen, die Melodien, die Arrangements, das Instrumentale und vor allem die Texte waren wild und aufrührerisch und hatten enorme Sprengkraft gegen das Etablierte. Victor Strejc hat Jahrzehnte später immer noch Led Zeppelin tief im Herzen. Er erzählt, dass die Westmusik von amerikanischen Radiostationen und einem florierenden Schwarzmarkt mit West-Platten verbreitet wurde. Sie ist Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung, sie war Ablenkung, Trost, Träumerei, Protest und Hoffnung, Ansprüche, die jede gute Musik erfüllt. Diese Szenerie, meint Victor, hat das kommunistische Regime innerlich zermürbt und einen Teil zum Umsturz beigetragen. Aktuell ist diese Musik nach einer Phase sehr großer Bluegras-Festivals der Unterhaltung und dem Schlager gewichen. Aber es ist immer noch die Sehnsucht zu spüren, wenn Knocking on heavens door tschechisch und inbrünstig gesungen wird, da ist Gänsehaut unvermeidlich.
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Mit Dudelsack und Teufelsgeige
Chodovanka aus Domažlice sind eine Institution seit Langem. Die Gründer und Motoren sind Antonín Konrády und jetzt sein Sohn Vlastimil. Letzterer war stellvertretender Leiter der Musikschule in Domažlice mit rund 800 Schülern. Das ist eine unerschöpfliche Basis an Musikbegeisterten. Die Schüler lernen Musik als etwas Besonderes zu empfinden. Das war immer ein Unterrichtsziel, auch in der Zeit vor 1989. Stücke der Beatles oder Hollies, instrumental interpretiert, hießen eben dann Largo oder waren eine Komposition von Mozart. Meinen Wunsch, bei der Buchvorstellung ein grenzüberschreitendes Stück zu spielen, erfüllte Chodovanka mit einem böhmischen Zwiefachen.
Vlastimil war lange Musiklehrer an der Realschule in Furth im Wald, mit seinen Musikanten spielt er grenzüberschreitend, überall in der Grenzregion kennt man ihn drüben und herüben, Gastauftritte in halb Europa und den USA sind normal geworden, auch mit seinen mittlerweile 93jährigen Vater, der immer noch die Teufelsgeige spielt. An seinem 92. Geburtstag wünschte dieser sich ein neues Handy mit von ihm ausgesuchten Apps.
Škoda lásky
Wieder ein bayerisch-böhmisches Musikantentreffen, diesmal in der Rotwaldglashütte in Zwiesel, da musste ich hin. Die Bühne war voll, der Saal übervoll, die Musik traditionell und schwungvoll, mit Druck und Begeisterung wurde gespielt, fast alles war perfekt. Bis auf das Treffen. Ich will doch ein Foto des gemeinsamen Musizierens. »Wir haben das noch nie gemacht …!«
Meine Bitte wurde erhört, ob ich ein Stück vorschlagen kann? Na klar: Rosamunde. Und es klappte ohne viel Abstimmung und dann gab es keine Grenze mehr. Das ganze Publikum sang inbrünstig, emotional und laut mit, das Trennende war weg. Neben der bayerischen Kapelle sorgten Heinz Dick, der Wirt, und Emil Kronschnabl dafür und die tschechische Gruppe Ku˚rovci, die Borkenkäfer, mit Josef Mráz, Jaroslav Nový, Václav Siegl, Sepp Weiß und Josef Ludvar.
Multilateraler Unterricht
Für die Landkreismusikschule Cham, sagt der stellvertretende Leiter Sigi Mühlbauer, ist das Internationale selbstverständlich. Sowohl bei den Kursteilnehmern als auch bei den Lehrerinnen und Lehrern. Im Bild: Arkadiusz Podwika aus Polen, Luis Berra aus Nicaragua, Ekaterina Shaynovich aus Russland, Sigi Mühlbauer aus Cham und Carlo Duò aus Italien.
Aus einer Kehle
Grenzüberschreitende Musik mit böhmischen Sängerinnen und Sängern verkörpert der Chor Železnorudský smíšený sbor aus Železná Ruda, verstärkt durch sechs Mitglieder aus Bayern und einem Engländer aus Frauenau. Während meines Grenzen-bewegen-Projekts bin ich dem Chor mehrmals begegnet. Das Bild zeigt ihn 2019 an der deutsch-tschechischen Grenze bei Bayerisch Eisenstein anlässlich der Erinnerung an die vielen Menschen, die im Februar 1990 eine eindrucksvolle Menschenkette bildete, Beobachter reden von 70.000 Teilnehmern, von Kolatschen, Wurstsemmeln, Pivo und … Musik und Gesang.
Klänge der Heimat
Mit dabei im November 2019 war auch die Blaskappelle Frauenau mit ihrem Dirigenten Hartwig Löfflmann. Natürlich spielen sie auch böhmische Kompositionen und ihre Edelzugabe Böhmischer Traum von Norbert Gälle. Die Kompositionen von Ernst Mosch und die von Elmar Wolf repräsentieren die Egerländer Musik, die nach dem Krieg und der Vertreibung jahrzehntelang eine Brücke der Sudetendeutschen zur alten Heimat war und ist, Erinnerung und Wehmut und ein weiteres Zeichen, dass Musik tief liegende Emotionen anspricht.
Musik verbindet
Tom Stangl, ein großer Fan der Popmusik, spaziert 1990 im tschechischen Tabor über den Marktplatz und ist plötzlich elektrisiert. Aus einer Seitengasse hört er Musik von Santana, den Super-Hit Blackmagic Women. Tom geht dem Sound nach und findet die Jordan Blues Band. Musik ist magisch und ohne Zögern ist man sich sympathisch, es funktioniert wieder, spontan, von Herzen, Freundschaft gründend, sogar ohne Sprachkenntnisse. Tom lädt die tschechische Band nach Frauenau ein, er veranstaltet ein bayerisch-tschechisches Rockfestival, aus dem viele werden, bis heute, 2024, mit den Gruppen Skavare aus Tschechien und Skakalak aus Zwiesel.
Musik verbindet besser als jedes andere Medium, sie ist per se pazifistisch, sie berührt die Seele, sie erleichtert Situationen, sie überwindet Grenzen spielend, sie kann Drachen verschwinden lassen.
Aufmacher:
Buchtipp
Die Publikation Grenzen bewegen. Fotobuch von Herbert Pöhnl mit Textbeiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren erschien im lichtung verlag in Viechtach. Sie umfasst 220 Seiten, rund 400 Fotos und Texte von etwa zwanzig Verfassern. Ausstellungen und digitale Präsentationen begleiten es.
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