Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war ein touristischer Aufenthalt in den vermeintlich unberührten Bergen des Alpenraumes durchaus möglich und überaus populär, aber nicht für alle Schichten zugänglich. Die mit dem Tourismus einhergegangene romantisierte Stilisierung von Tirol als Sehnsuchtsort führte zur Entwicklung von Stereotypen, deren Anwendung zumindest eine Illusion von Tirol erschaffen konnte. Wenn schon nicht die Menschen nach Tirol kommen konnten, so erlaubte diese Stereotypisierung, dass ›Tirol‹ zu den Menschen kam: auf Großveranstaltungen wie Ausstellungen oder Messen beispielsweise oder auf Volksfesten, deren Funktion in dieser Zeit mehr denn je in der Ermöglichung eines Volksvergnügens als Auszeit vom Alltag verstanden wurde.
Text: Merle Greiser Fotos: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, Stadtarchiv München
1896 eröffnete auf der Berliner Gewerbeausstellung das Alpenpanorama Bergfahrt im Zillerthal zur Berliner Hütte. Das Konzept wurde in den folgenden Jahren in weiteren Städten umgesetzt: die Tiroler Bergfahrt auf der Leipziger Industrie- und Gewerbe-Ausstellung 1897, in Hamburg 1899–1901 als Bergfahrt in Tirol, auf der Industrie- und Gewerbeausstellung in Düsseldorf 1902 mit dem Titel Suldenthal und Zillerthal und 1904 auf der Weltausstellung Louisiana Purchase Exposition in St. Louis als Tyrolean Alps.1 Die nachgebauten Berglandschaften waren gebäudegroß, begehbar und warteten mit Attraktionen wie Wanderwegen, Salzgrotte mit unterirdischem Salzsee und Rutschbahn auf, alpine Themengaststätten boten Erfrischungen, Speisen sowie musikalische Unterhaltung. Die Hamburger Version umfasste »etwa 10.000 m2 Fels- u. Grottenbauten«2, auf der Weltausstellung 1904 war das sogenannte ›Panorama‹ auf 36.000 m2 ausgeweitet.
Tirol war in, das hatte man nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Großstädten verstanden. Während der Aufbau und Betrieb der oben beschrieben, riesigen Panoramen mit erheblichem Aufwand und finanziellen Mitteln verbunden waren, ließen sich alpine Vergnügen durchaus auch im kleineren Rahmen zu den Menschen bringen: zum Beispiel auf der Bühne und im Festzelt.
Gruss von der Bergfahrt in Tirol in Hamburg. Bildpostkarte, versandt am 21.7.1900
Auf der Vogelwiese
Was den Münchnern ihr Oktoberfest, war den Dresdenern die Vogelwiese, bis ins 20. Jahrhundert hinein Dresdens größtes Volksfest. Zu den dort gebotenen Attraktionen zählten um 1900 große Panoramen und Illusionsschauen, Schnellfotografen, Hippodrom und Veloziped-Rennen, Schiff- und Eisenbahn-Karussells und – selbstverständlich – Festzelte. 1895, also bereits ein Jahr vor dem Berliner Alpenpanorama, hatte der damalige Besitzer des Bratwurstglöckleins, einem Festzelt auf der Dresdener Vogelwiese, sein Dekor um Tiroler Landschaftsbilder bereichert:
»Die neue Ausstattung des an zweitausend Personen fassenden Bratwurstglöckleins zeigt an der südlichen Giebelseite eine Tiroler Landschaft mit Wasserfall, Alpenweiden und darüber ragenden Fernern, von denen herab ein Tiroler Doppelquartett tirolerische Volksweisen singen wird.«3
Das Bratwurstglöcklein auf der Vogelwiese, Dresden. Bildpostkarte, versandt am 5.8.1910.
»Gruss von der Vogelwiese / Die ›Oberlandler‹ kommen«. Bildpostkarte, undatiert.
Das ist auch deshalb bemerkenswert, da das Festzelt noch im Vorjahr als Nürnberger Bratwurstglöcklein beworben wurde, auch wenn es »nicht im Entferntesten Aehnlichkeit mit jenem altberühmten ›Bratwurstglöckle‹ in Nürnberg hat«, wie ein Zeitungsartikel 1891 festhielt.4 Die Tiroler Landschaft im Zelt musste 1896 einer arktischen Gegend weichen, deren Hintergrund abwechselnd Nordlicht und Polarsonne zeigte.5 So manche Attraktion der Vogelwiese bot weitere Sehnsuchts- und Abenteuerziele, z. B. mit »tropischen […] Landschaften«6 (1895, Hippodrom) oder »orientalische[n] Wandmalereien, Motive von Bosporus und vom Nil darstellend«7 (1899, Hippodrom). 1897 erhielt das Bratwurstglöcklein wiederum eine »neu geschaffene Alpenscenerie«, dort fanden »täglich Festkonzerte des Kärnthner Vokal-Quintett[s] Theodor Zipper […] statt«.8 Kärnten ist nicht Tirol, doch in den Alpen lässt es sich schon verorten. Im Jahr 1898 sorgte die Tiroler-Concertgesellschaft Pontiller aus Iselberg9 für musikalische Unterhaltung und eine Rückkehr nach Tirol. 1899 übernahm der Nürnberger Festwirt Georg Lang, ebenso berühmt für die Errichtung der ersten Riesenhalle auf dem Oktoberfest 1898 wie für seine »in Oberländer Tracht gekleidete Hauskapelle«10. Er stellte »gesamt bayerisches Personal und Bedienung durch 25 Oberländlerinnen im Nationalcostüm«11 – wobei bezweifelt werden darf, ob tatsächlich alle Kellnerinnen und Musiker aus dem bayerischen, österreichischen oder einem ganz anderen Oberland kamen.
Blick auf die Dresdener Vogelwiese am 2/8. 1909 vor dem Brande, links das Bratwurstglöcklein mit den Werbeaufschriften Orig. Oberlandler und Preisgekrönt! Orig. Schuhplattler vom Reichenhaller Bauerntheater ›Binder-Hansl‹, Bildpostkarte, 1909. Am Abend des gleichen Tages war im Bratwurstglöcklein ein Feuer ausgebrochen, das etwa ein Drittel der Festbauten auf der Vogelwiese vernichtete und 20 Menschen verletzte, jedoch keine Todesopfer forderte. Schnell verbreiteten sich Spekulationen, die Brandursache sei entweder ein Küchenunfall oder durch die Feuerwerk-Effekte der Lang’schen Bühnenshow bedingt gewesen. [www.zeno.org]
Tyroler Holzhackerbuam in Dresden
Das musikalische Repertoire der Lang’schen Kapelle setzte sich aus verschiedenen Elementen zusammen: Gespielt wurden aktuelle populäre Gassenhauer mit originären oder umgedichteten Texten ebenso wie Volks-, Liebes- und Heimatlieder. Vor allem letztere bedienen ein romantisiertes Bild des Alpenlandes und sind teilweise bis in die Gegenwart verbreitet: Und’s Diandl hot g’sagt (Steierischer Ländler), Hoch vom Dachstein an, Tyroler Holzhackerbuam-Marsch, Auf der Alm da gibt’s koa Sünd’, Wo den Himmel Berge kränzen oder Zillertal, du bist mei Freud’!. Auch nach Langs Tod 1904 kam seine Kapelle, unter der wirtschaftlichen Leitung seiner Witwe Wilhelmina, jährlich zurück auf die Vogelwiese. Anhand von Presseberichten lässt sich nachvollziehen, wie sehr Tirol und der Alpenraum generell als Begrifflichkeiten immer weiter ineinander verschwammen. 1910 berichteten die Dresdner Nachrichten anlässlich eines Besuchs der sächsischen Königsfamilie im Bratwurstglöcklein über den Auftritt der ursprünglich aus Franken stammenden Lang’schen Kapelle: »Hier empfing die vollbesetzte Oberländler Kapelle in ihrer schmucken Tirolertracht die Fürstlichkeiten mit einem schmetternden Marsch […].«12
Titelbild der Broschüre Bergfahrt in Tirol, Hamburg, 1899 [Privatbesitz Silke Haps].
1913 echauffierten sich die Münchner Neueste Nachrichten über einen ähnlichen ›Fehler‹ in einer anderen Dresdner Zeitung: »Schliersee in Tirol! In den ›Dresdener Neuesten Nachrichten‹ vom 10. April wird das den Münchnern wohlbekannte Methsche Bauerntheater ein ›Tiroler Schauspielensemble aus Schliersee‹ genannt. Ganz abgesehen davon, daß es nur eine ›Schlierseer‹ Truppe, die von Xaver Terofal[,] gibt, liegt Schliersee vorläufig immer noch in Bayern. Eine solche merkwürdige Geographie kommt daher, wenn man eben die Wadelstrümpfe als das alleinige Merkmal der Tiroler Tracht ansieht.«13
Bierzeichen oder Gedenkmünze an Festwirth Lang aus Nürnberg und seine Oberlandler anlässlich der Dresdener Vogelwiese 1899.
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