Text: Ernst Schusser Fotos: Familie Staber, Familie Pangerl, privat
Von April bis Anfang Juni 2024 ist in Schloss Hartmannsberg (bei Hemhof, Markt Bad Endorf, Lkr. Rosenheim) die Ausstellung Annette Thoma, Tobi Reiser und Hans Kammerer – Volksmusikpflege von den 1930er- bis in die 1970er-Jahre aufgebaut.
Schon seit den 1990er-Jahren haben wir im Zusammenwirken vom Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern und regionalen Fachleuten/Institutionen Ausstellungen zu diesen Themen gestaltet. Dankenswerterweise hat der Bezirk Oberbayern dem Förderverein Volksmusik Oberbayern e.V. die damaligen Ausstellungstafeln und die Ausstellungsarchitektur übereignet. Diese werden ergänzt durch Leihgaben von Volksmusikfreunden und Materialien aus der aktuellen Feldforschung in den Landkreisen Rosenheim, Miesbach, Traunstein, Berchtesgadener Land, Altötting, Mühldorf und dem Land Salzburg. Damals wie heute kann ich auf meine eigenen Forschungen und Sammlungen zurückgreifen.
Die Ausstellung ist in folgende Themen gegliedert:
- Die Volksmusikpflege der 1930er- bis 1970er-Jahre in Oberbayern (kleiner Überblick und Zeitgenossen)
- Annette Thoma (1886–1974, Riedering) – Mitarbeiterin von Kiem Pauli und Wastl Fanderl, Journalistin und Liedermacherin (z. B. Deutsche Bauernmesse, 1933), Redaktion der Sänger- und Musikantenzeitung (ab 1958)
- Hans Kammerer (1891–1968, Burghausen) – Lehrer, Heimatpfleger, Volksmusikpfleger für die Schüler und Jugend, Hausmusik, Pfeiferlbuam, Sammlung von Instrumenten
- Tobi Reiser (1907–1974, Salzburg) – Musikant, Sammler, Komponist, Erneuerer von Hackbrett und Saitenmusik, Salzburger Adventsingen
Begleitveranstaltungen werden Entwicklungen und Aspekte der Volksmusikpflege (weltlich-geistlich, Jugend-Erwachsene, Bühne-Leben usw.) lebendig machen. Vorträge und Diskussionen erweitern die Themen. Die Ausstellung in Schloss Hartmannsberg ist bei freiem Eintritt an den Sonntagen (13.00 – 18.00 Uhr, außer Pfingstsonntag) zu besichtigen.
Das Ausstellungsprojekt
Es geht um die Schaffung einer bewussten Erinnerungskultur, die auf der Grundlage der Volksmusikpflege der 1930er- bis 1970er-Jahre in den verschiedenen Generationen bis heute eigene Aktivitäten hervorbringt. Zudem sollen auch die drei zentralen Personen und ihre Haltung in der Zeit von Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit betrachtet werden. Die drei Volksmusikanten der beschriebenen Zeit gaben unterschiedliche neue Impulse für die traditionelle Volksmusikpflege und wollten mit der breitgefächerten Pflege von überlieferten und neugestalteten Volksliedern und Volksmusik auch die dörflichen und sozialen Gemeinschaften fördern.
Annette Thoma
Als Tochter von General Schenk wurde Annette Thoma (1886–1974) in Neu-Ulm geboren. Sie war verheiratet mit dem Maler Emil Thoma (1869–1948) und lebte in Riedering am Simssee. 1930 hörte die Familie Thoma die Übertragung des Egerner Preissingens im Radio. Voll Begeisterung für das von Kiem Pauli propagierte Volkslied wandte sie sich der Volksliedpflege zu. In der Zeit des Nationalsozialismus versuchte Annette Thoma als Halbjüdin ihre Familie und sich zu schützen.
Mit Kiem Pauli verband Annette Thoma seit 1932 eine enge Freundschaft. Auf seine Anregung hin beschäftigte sie sich mit dem geistlichen Volkslied. An Kiem Paulis Namenstag am 29. Juni 1933 sangen die Riederinger Buam zum ersten Mal die Deutsche Bauernmesse, für die Annette Thoma überlieferte Melodien mit eigenen, zur Liturgie der 1930er-Jahre passenden Texten unterlegt hatte. 1972 gestaltete sie die Kleine Messe. Auch mehrere Szenen, Lieder und Spiele für Advent und Weihnachten stammen von Annette Thoma.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Annette Thoma maßgeblich an der Breitenwirkung der Volksliedpflege beteiligt. Sie gestaltete mit Tobi Reiser die ersten Salzburger Adventsingen. In den adventlichen Freisinger Dombergsingen öffnete sie jungen Seelsorgern den Weg zum geistlichen Volkslied. Mit Wastl Fanderl gab Annette Thoma die ersten Jahrgänge der Sänger- und Musikantenzeitung (1958 ff) heraus. Hier veröffentlichte sie viele ihrer geistlichen Lieder für Gesangsgruppen. Mit dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege gab sie Passions- und Osterlieder (1973) im dreistimmigen Satz für Volksliedgruppen heraus, die das Aufkommen der Passionssingen in Oberbayern förderten. Nach der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils wollte Annette Thoma Mitte der 1960er-Jahre ihre Deutsche Bauernmesse den neuen Anforderungen und Möglichkeiten des Messgesangs (z. B. Volksbeteiligung, Hallelujaruf) anpassen, doch die Gesangsgruppen machten die Änderungen nicht mit.
Tobi Reiser
Die musikalischen Wurzeln von Tobi Reiser (1907–1974) liegen in der Pongauer Volksmusik. Hier fand der Wirtssohn aus St. Johann im Pongau unter den einheimischen Sängern und Musikanten genügend Gewährsleute, denen er die überlieferten Lieder und Tanzmusikstücke ablauschte. Von ihnen erlernte er, wie man mitreißend musiziert. Georg Windhofer (1887–1964) war sein Lehrmeister auf der Geige. Ganz mitreißend war Reisers Begleitspiel auf der Gitarre. Auf Anregung von Kiem Pauli und nach dem Vorbild der Winkler-Schrammeln, die schon 1932 im Bayerischen Rundfunk zu hören waren, setzte Reiser die ihm bekannten alten Tanzmelodien auf Saiten- und Stubenmusik-Besetzungen um.
Der neue Klang der Saitenmusikbesetzungen mit Hackbrett, Zither und Gitarre, 1953 erweitert mit Harfe und Kontrabass zum Tobi-Reiser-Quintett, faszinierte die Volksmusikliebhaber und die Musikanten. Um 1935 entwickelte Reiser mit dem Instrumentenbauer Heinrich Bandzauner (1891–1964) in Salzburg aus dem traditionellen diatonischen Hackbrett das neue chromatische Hackbrett.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelangen ihm faszinierende Bearbeitungen für Quintett, Ensemble und Gitarrenbesetzung. Darüber hinaus spielte Reiser die überlieferten Tanzmusikstücke noch mit seiner Geigenmusik und in der Blasmusikbesetzung der Flachgauer Musikanten. Eine Reihe Lieder und Musikstücke gestaltete Tobi Reiser nach überlieferten Vorbildern gänzlich neu, wobei es ihm anfänglich nicht schwerfiel, diese Neubildungen als überlieferte Volksmusik auszugeben.
Schon in den 1930er-Jahren war Tobi Reiser in die von Oberbayern ausstrahlende neue Welle der Volksliedpflege eingebunden. Reisers aktive Rolle in der nationalsozialistischen Kulturarbeit war beachtlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete Reiser 1946 in Salzburg – wie Kiem Pauli in München – das erste Singen von Advent- und Weihnachtsliedern mit Volksliedgruppen in der Vorweihnachtszeit. Als Salzburger Adventsingen erreichte diese Veranstaltungsform riesige Publikumswirksamkeit und war Vorbild für viele Adventsingen. In Konzerten, Rundfunk- und Fernsehsendungen verstand es Reiser, ein Publikum für diese neue Form der Darbietung von volksmusikalischen Weisen zu gewinnen.
Hans Kammerer
In Altenerding geboren lebte Hans Kammerer (1891–1968) die meiste Zeit in Burghausen, wohin er als Lehrer 1924 versetzt wurde. Im Ersten Weltkrieg wurde er als Soldat in Frankreich schwer im Gesicht verwundet. Durch Lied und Musik erhielt er sich mit seinen Schicksalsgenossen im Lazarett den Lebenswillen.
In Burghausen nahm sich Hans Kammerer um das Heimatmuseum an. Zugleich war er begeisterter Faltbootfahrer und Photograph. Besonders hervorzuheben ist seine Zivilcourage, die er gegenüber den Machthabern im Dritten Reich zeigte. Im Mai 1945 verhinderte Hans Kammerer im Zusammenwirken mit einigen anderen furchtlosen Bürgern die Verteidigung der Stadt vor den anrückenden Amerikanern und bewahrte Burghausen somit vor der Zerstörung.
Seit 1924 hat sich Hans Kammerer um die Musikpflege in Burghausen angenommen. Besonders die Jugend versuchte er zu gewinnen und zur Haus- und Volksmusik und zum Volkslied zu führen. Vor allem die instrumentale Volksmusikpflege lag ihm am Herzen: Er gründete die Burghauser Pfeiferlbuben, lernte Hausmusikgruppen mit Saiteninstrumenten an und war ein idealistischer und unermüdlicher Instrumentallehrer. In der Auswahl und Instrumentierung seiner Spielstücke führte Kammerer die überlieferten Volksmelodien mit den Melodien und Spielgelegenheiten der Hausmusik zusammen. Somit bedeuten seine musikalischen Aktivitäten eine Grundlage der heutigen Stubenmusik in Oberbayern.
Hans Kammerer und Kiem Pauli waren eng befreundet. Ein reger Briefwechsel zeugt vom Verständnis der beiden im menschlichen und volksmusikalischen Bereich.
Begleitveranstaltungen zur Ausstellung:
Sonntag, 5. Mai 2024: 13 – 18 Uhr: Ausstellungsöffnung ∙ 11 Uhr: Eva Bruckner und Ernst Schusser singen mit den Besuchern viele Lieder und erzählen über die Pflege der geistlichen Volkslieder neben und nach Annette Thoma, z. B. auf dem Freisinger Domberg, im Bildungswerk Rosenheim, die Lieder der Fischbachauer Sängerinnen, Pfarrer Franz Niegel und Pfarrer Hans Durner, Kurt Becher und die von Rosenheim 1980 ausgehende Reihe Das geistliche Volkslied das Jahr hindurch. 14 Uhr: Führung durch die Ausstellung ∙ 15 Uhr: Zu Gast aus Salzburg: Hans Köhl erzählt über das heutige Salzburger Adventsingen und seine Wurzeln bei Tobi Reiser. ∙ 16 Uhr: Vorführung eines ORF-Films (2007) über Tobi Reiser (zum 100. Geburtstag) mit Bildern aus seiner Jugendzeit, Wortbeiträgen von Weggenossen und Hinweisen auf Reisers Wirken im Nationalsozialismus, im Krieg und der Nachkriegszeit. Anschließend: Offene Diskussion über den Film.
Sonntag, 12. Mai 2024: 13 – 18 Uhr: Ausstellungsöffnung ∙ 11 Uhr: Sepp Hornsteiner (Gmund) und Mandi Hugel (Holzkirchen) und andere Zeitgenossen erzählen über ihre Begegnung mit der Reiser-Musik in ihrer Jugend, in der Musikhochschule, mit Wastl Fanderl und dem eigenen Musizieren. Natürlich lassen sie auch ihre Gitarren erklingen. ∙ 14 Uhr: Führung durch die Ausstellung ∙ 15 Uhr: Instrumentalmusik und Lieder zum Muttertag, bei schönem Wetter im Freien am See
Mittwoch, 15. Mai 2024: ab 18 Uhr: Ausstellungsöffnung ∙ 19 Uhr: SINGEN am SEE mit bekannten geselligen Volksliedern und Liedern von Annette Thoma, Tobi Reiser und Hans Kammerer. Anschließend Film über Annette Thoma aus dem Jahr 1974.
Sonntag, 26. Mai 2024: 13 – 18 Uhr: Ausstellungsöffnung ∙ 14 Uhr: Führung durch die Ausstellung ∙ 15 Uhr: Instrumentalmusik und Lieder, bei schönem Wetter im Freien am See ∙ 17 Uhr: Film über Annette Thoma aus dem Jahr 1974.
Sonntag, 2. Juni 2024: 13 – 18 Uhr: Ausstellungsöffnung ∙ 11 Uhr: Gäste aus Salzburg: Prof. Dr. Karl Müller erzählt über das musikalische Leben seiner Mutter Maridl Willroider-Müller, die u. a. beim Reiser-Ensemble Harfe gespielt hat, die Harfenstimme gestaltet und Noten geschrieben hat. Waltraud Stöger, Mitarbeiterin beim Salzburger Volksliedwerk und Harfenistin beim Radauer-Ensemble spielt dazu auf der Harfe – einem Instrument mit besonderer Geschichte ∙ 14 Uhr: Führung durch die Ausstellung ∙ 15 Uhr: Zu Gast: Die Stadtsingschule Kolbermoor mit dem Chor (Ltg. Heide Hauser).
Dienstag, 4. Juni 2024: 19.00 Uhr: SINGEN am SEE ∙ Am Ende der Ausstellung werden von allen Besuchern gemeinsam mit Ernst Schusser und Eva Bruckner gesellige Lieder der Volksmusikpflege gesungen. ∙ 18 Uhr Gelegenheit zur Ausstellungsführung vor dem Abbau bei einigen offenen Vitrinen.
Weitere Informationen: Ernst Schusser, ehrenamtlicher Volksmusikpfleger Landkreis Rosenheim / Förderverein Volksmusik Oberbayern e.V., Friedrich-Jahn-Str. 3, 83052 Bruckmühl, ernst.schusser@heimatpfleger.bayern, +49 8062 8078307.
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