Augsburg singt!

Jeden Montag zur selben Zeit

30. Oktober 2023

Lesezeit: 4 Minute(n)

Text: Evi Heigl Fotos: Mercan Fröhlich, helle Tage Fotografie / Cristina Pichler, Nontira Kigle (Grafik)

Es ist Montag, später Nachmittag. Auf dem Augsburger Holbeinplatz, einem lauschigen, sonnenbeschienenen Fleck zwischen historischen Altstadthäusern und Lechkanälchen, von zahlreichen Bäumchen gesäumt und an einem Brunnen gelegen, formieren sich kleine Grüppchen von Leuten, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Kurze Zeit später erscheint ein junger Mann mit Gitarre unter dem Arm, grüßt freundlich in die Runde und schlägt die ersten Akkorde an. Es ist 17.30 Uhr und wie jeden Montag lädt Raphael Kestler auch heute wieder ein zu Augsburg singt!

Es geht los mit einem afrikanischen Kanon. Die Anwesenden zücken ihre Notenblätter oder auch Handys und Tablets. Raphael singt die Melodie einmal vor, die Anwesenden probieren ein bisschen mit und nach ein paar Durchgängen lässt sich das Lied mit den ungewohnten Textsilben schon wunderbar im Kanon singen. Wer schon länger dabei ist, weiß: Auf der Homepage des Vereins Musik einer Welt kann man die Noten oder Texte der vier für heute ausgewählten Lieder finden und dann macht man einfach mit. Denn das ist das Konzept: Wer Lust und Zeit hat, kommt hier montags auf den Platz und dann wird etwa eine halbe Stunde gesungen: vier Lieder aus vier Himmelsrichtungen.

Raphael Kestler

Foto: helle Tage Fotografie

Augsburg singt!

Foto: Mercan Fröhlich

Unverbindlich und generationenübergreifend

Der Initiator dieses so einfachen wie genialen Konzepts ist der ausgebildete Sänger und Gitarrist Raphael Kestler. Er will mit seinem privat initiierten Projekt ein niederschwelliges Angebot schaffen, um Menschen zum gemeinsamen Singen zusammenzubringen – und das nicht im geschützten, sondern im öffentlichen Raum, mitten in der Altstadt.

Auf diese Weise stieß Ulrike zu Augsburg singt. Die Seniorin kam irgendwann zufällig am Platz vorbei: »Und da hat mir eine Frau gleich ihr Handy gegeben, damit ich mitsingen kann. Da hab ich mir gedacht, das ist so eine nette Atmosphäre, da möchte ich gerne dabei sein!« Seitdem fährt sie fast regelmäßig von einem Augsburger Vorort in die Innenstadt, um sich mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Singen zu treffen.

Sonja, die regelmäßig in einem Frauenchor singt, kommt hier oft mit ihren Töchtern vorbei. Sie schätzt das generationenübergreifende und unverbindliche Angebot: »Wir haben das einmal angeschaut und mitgesungen, das hat uns so gefallen und jetzt kommen wir schon seit vielen Jahren. Es kommt auf nichts an und wenn man mal nicht kann, dann kann man halt nicht.«

Genau das ist die Absicht, die Raphael Kestler mit seiner Initiative verfolgt: »Augsburg singt soll eine lockere Singgemeinschaft sein. Sie hat nichts Performatives und am Schluss geht auch kein Hut rum.« Dem Gesangspädagogen, der gerade noch ein Studium der Musiktherapie abschließt, ist wichtig, dass sich auch Leute angesprochen fühlen, die sich selbst sogar als Nicht-Sänger bezeichnen würden und die ihre Stimme erst entdecken wollen. »Das ist mir ein Herzensanliegen: Gesang ist eine große Ressource, die nicht ungenutzt bleiben darf. Singen soll einfach eine Selbstverständlichkeit sein.« Er stellt fest, dass aufgrund der Unkompliziertheit von Augsburg singt die Atmosphäre auf dem Platz in dieser halben Stunde immer eine positive ist: »Es ist einfach extrem nett. Und es passieren auch lustige Sachen. Und wenn ich mich mal versinge oder verspiele, ist das auch egal.«

Augsburg singt!

Foto: Mercan Fröhlich

Fremdes und Vertrautes

Hinter dem Konzept der vier Lieder aus vier Himmelsrichtungen steckt eine internationale, interkulturelle Idee. Raphael erklärt: »Ein Lied aus dem ›Osten‹ ist z. B. eines aus der Türkei. Ausgehend von Augsburg kann ein Lied aus dem ›Norden‹ dann eines aus Hamburg, aber auch eines aus Schweden sein. Die Himmelsrichtungen sind eigentlich ein Bild, eine Verknüpfung – manchmal auch zum Textdichter oder zu einem Interpreten. Es ist eher so ein Aufhänger und ich handhabe das auch nicht so superstreng.«

Die ausgewählten Lieder kommen aus dem Bereich der Folk- und Volksmusik, aber auch aus der Popmusik. »Ich versuche immer darauf zu achten, dass es Fremdes und Vertrautes in den Liedern gibt. Ich sag den Leuten auch, sie sollen sich was wünschen. Ich bin ungern derjenige, der alles vorgibt.« Einen Monat lang werden dann dieselben vier Lieder gesungen, die sich beim wiederholten Durchsingen festigen können. Im nächsten Monat gibt es dann vier neue Lieder.

An diesem Montag werden noch das beliebte Die Gedanken sind frei und das schwäbische Volkslied Da unten im Tale läuft ’s Wasser so trüb angestimmt. Entlassen wird die Gruppe schließlich mit einem Hit aus den 1970er-Jahren: Snowdrops and daffodils. Sonja ist zufrieden mit der Liedauswahl: »Ich kenn wirklich viele Lieder, aber ich lern hier immer wieder neue, das ist so toll!«

 Kontinuität und Regelmäßigkeit

Die besondere Qualität des Angebots Augsburg singt liegt wohl auch in seiner Beständigkeit. Seit vier Jahren wird tatsächlich jeden Montag gesungen, zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Lediglich in den Ferien und an Feiertagen wird pausiert. Ulrike ist stolz: »Ich bin fast regelmäßig da. Letze Woche ging’s mal nicht, aber normalerweise schau ich, dass ich kommen kann – und das wirklich bei jedem Wetter, auch unter’m Regenschirm!«

Diese Regelmäßigkeit führt natürlich auch dazu, dass Menschen sich kennenlernen und Kontakte knüpfen. Raphael erzählt vom Entstehen einer Oma-Patenschaft: »Der Karl, der ist jetzt schon dreieinhalb, den kenn ich, seit er in der Trage war, weil seine Mama immer zum Singen gekommen ist. Der hat jetzt inzwischen über Augsburg singt eine Oma gefunden, die immer auf ihn aufpasst.«

Aber egal, ob man nun regelmäßig da ist oder nur einmal zufällig vorbeikommt und mitmacht, für die Anwesenden ist spürbar: Singen tut gut. Oder, wie Sonja es ausdrückt: »Man kann ja auch nicht singen und dabei schlecht gelaunt sein, das geht nicht!«

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