Grenzen

Grenzwertig – Grenzenlos – Grenzen-​Los

13. Januar 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

Text: Zuzana Ronck Fotos: Bernd Kohlmaier, Foto Fischer, Zuzana Ronck

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in einem oberschlesischen Grenzort an der Grenze zu Polen. Es gab tschechische, slowakische und polnische Schulen. Man sah im Fernsehen Filme in allen drei Sprachen. Die Geschäfte waren tschechisch und polnisch angeschrieben. Darüber hinaus hörte man rundherum eine weitere Sprache, nämlich die Sprache der Oberschlesier, die auch unsere Njanja (= Kindermädchen, Kosename aus dem Russischen nach A. S. Puschkin) sprach. Po naszymu, eine Sprache, die für mich wie eine Mischung von Tschechisch, Polnisch und Deutsch klang. In der Schule war Russisch ein Pflichtgegenstand und zu Hause sprachen meine Eltern und Großeltern Deutsch, wenn wir Kinder etwas nicht hören sollten. Im Chor sangen wir Swing low, sweet chariot und den Song der Olympischen Spiele in Sapporo Sayonara. Durch die sprachliche Vielfalt wurde mein Interesse an den Sprachen fast grenzenlos. Das alles in einem Land hinter dem Eisernen Vorhang, hinter der streng bewachten Grenze des Ostblocks.

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Über die Grenze konnte man nicht so einfach reisen. Man brauchte sogar um über die nahe Grenze nach Polen zu kommen eine Propustka, also eine Bewilligung für die Reisenden, die in der Grenzregion lebten. Da meine Eltern sehr West-affin waren und Brieffreundschaften mit Freunden in der freien Welt pflegten, wurde jede Möglichkeit genutzt, in den Westen zu reisen, vor allem auch um die Kunstschätze und die Landschaften von Italien, Griechenland, Türkei, Schweden, Schweiz oder Deutschland auf eigene Faust erkunden zu können. Das ohne kommunistischen familiären Background zu schaffen, war eine grenzwertige Herausforderung. Im Auto gab es kein Radio, da es als störend empfunden wurde. Es wurde auf den langen Fahrten durch Europa einfach gesungen – auf tschechisch, slowakisch, polnisch und po naszymu. Nach der Rückkehr war ich die Einzige in der Schule, die meinen Mitschülern und Professoren von dieser freien Welt hinter der südlichen und westlichen Grenze erzählen konnte.

Ab in den Süden

Meine durch Musik und die Chorgemeinschaft geprägte Kindheit und Jugend innerhalb der Grenzen des sozialistischen Realismus fand 1981 durch meine Verehelichung mit einem Österreicher ein Ende. Es begann eine neue Lebensetappe. Es ging über die Grenze in den Süden, in ein neues Land, in ein freies Land, in ein grünes Land der Berge und der großen Musiktradition. In ein Land, aus dem man ohne Visum viele Länder entdecken konnte und man an der Grenze einfach durchgewunken wurde.

Hier in der Steiermark, noch nicht der deutschen Sprache sehr mächtig, aber mit großem Engagement, wollte ich einfach mit Kindern und Jugendlichen professionell singen, sie für die Welt der Musik begeistern, die Liebe zur Musik in ihnen wecken. Unbedingt wollte ich auch die Freude und das Glücksgefühl einer singenden Gemeinschaft in meiner neuen Heimat vermitteln. Gleich welcher Religion, Sprache und welchem sozialen Status man angehören mag – so, wie ich es in meiner Jugend prägend erfuhr.

Glückliche Fügung

All das begann ich 1983 in der Musikschule einer oststeirischen Kleinstadt neben meiner künstlerischen Ausbildung für Chor- und Orchesterdirigieren an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz. Anfangs war es eine ziemliche sprachliche Herausforderung, da ich durch den oststeirischen Dialekt und die ungenaue Sprache der Kleinkinder an meine (sprachlichen) Grenzen stieß. Es waren zwei sprachliche Welten: Die Hochsprache in der künstlerischen Ausbildung und auf der anderen Seite die sehr spezifische Mundart der Oststeiermark.

Unterrichtsalltag an der Musikschule

Als ich 1986 meine Stelle für Chorleitung und Chorerziehung am Johann-Joseph-Fux-Konservatorium, damals Konservatorium des Landes Steiermark in Graz, annahm, stieß ich wiederum an meine Grenzen. Ich hatte zwar weit über 100 Volkslieder in diversen slawischen Sprachen inne, aber in meinem künstlerischen und privaten Umfeld in Österreich blieben mir die Volkslieder, also Lieder, die man fast mit der Muttermilch bekommt, verborgen.

Es gab dennoch eine glückliche Fügung, da der Vater eines Chorkindes ein steirischer Musiker war. Er schickte mich zum Meister der Steirischen Volksmusik, zu dem damaligen Geschäftsführer des Steirischen Volksliedwerks, Hermann Härtel, der nicht nur viele Lieder kannte, sondern sie auch im Steirischen Volksliedarchiv hütete. So begann zwischen uns eine jahrzehntelange musikalische und persönliche Freundschaft. Durch Hermann und Inge Härtel konnte ich die entlegensten Gegenden der Steiermark und viele lokale Musikanten kennenlernen und wertschätzen. Bei der Feldforschung an der slowenischen Grenze fühlte ich mich fast 100 Jahre zurückversetzt, in eine Zeit, als mein Großvater seine musikalischen Feldforschungen an der Grenze zu Polen und in den Beskiden unternahm.

13.12.2023, F Hirten- und Krippenlieder in der Grazer Antonius- Kirche

Foto: B. Kohlmaier

Musik als lebenslange Begleiterin

Inzwischen neigt sich meine berufliche musikalische Spur in der Steiermark dem Ende zu. Meine Freude an der lebendigen Musikvermittlung habe ich auch nach 42 Jahren nicht eingebüßt. Ich konnte viele Menschen für die Welt der Musik begeistern und ihnen die Freude am Singen vermitteln. Ob es sich um das traditionelle Liedgut aus den Archiven handelt, welches wir beim Hirten- und Krippenliedersingen in der Grazer Antonius-Kirche weitertragen und so die Tradition seit 1916 pflegen, oder wenn wir in die Weite schweifen und bei Konzerten im Ausland mit internationalem Repertoire konzertieren. Ob in Slowenien, in Deutschland oder im fernen Fuerteventura, wo wir mit hunderten von Kindern steirische Jodler sangen und ihnen musikalisch das Land, in dem wir leben, vorstellten. Wir singen in vielen Sprachen und leben einen wertschätzenden Umgang untereinander. Mehrsprachigkeit ist natürlich ein großes Plus. Man schaut mutiger über den Tellerrand hinaus. Hinaus über die Grenzen. Die Freundschaften, die besonders in der Jugend im musikalischen Umfeld reifen, haben eine besondere Qualität und Nachhaltigkeit. Sie bleiben uns oft das ganze Leben erhalten.

Musik kennt keine Grenzen. Sie ist verbindend, sie stärkt uns, bereichert, beglückt, tröstet. Sie lernt uns zuzuhören, Toleranz, Respekt, Disziplin, Empathie. Wenn sie sich einmal in unseren Herzen eingenistet und ihren Platz gefunden hat, kann sie uns niemand wegnehmen. Sie bleibt uns eine lebenslange, treue Begleiterin.

Zur Autorin

Zuzana Ronck ist Vorsitzende des Steirischen Volksliedwerks, Vizepräsidentin des Steirischen Chorverbandes, Lehrende am Johann-Joseph Fux Konservatorium in Graz, künstlerische Leiterin von Musica con GRAZia. Sie absolvierte ein Studium für Chor-und Orchesterdirigieren und promovierte im Bereich der katholischen und evangelischen Kirchenmusik an der Kunstuniversität Graz. Seit April 2024 ist sie Mitglied des Europäischen Kulturparlaments.

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Aufmacher:
Auftritte der Ragazzi und Giovani Cantanti des Johann Joseph Fux Konservatoriums unter Leitung von Zuzana Ronck

[Foto: Zuzana Ronck]

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