Beim Joggen gehen ist sie nicht wegzudenken, während des Kochens lässt sie uns fröhlich den Kochlöffel schwingen und zum Entspannen am Sonntag begleitet sie uns auch. Musik ist aus unserem Leben nicht wegzudenken. Ob bewusst zugehört oder Gedudel aus dem Supermarktradio – Musik beeinflusst sowohl Körper als auch Psyche. Aber dauernd und überall? Musik ist eine wahrhaft universale Droge. Auf der einen Seite kann sie ungemein anregend und berauschend wirken, auf der anderen Seite auch zur absoluten Tortour werden; sich sogar monströs aufbäumen. »zwiefach«-Autor und Musikant Wulf Wager geht in seinem Essay dem Phänomen nach.
Text: Wulf Wager Fotos: Wulf Wager, Adobe Stock, Pixabay, Pexels, Archiv Wager
Morgens weckt uns der Radiowecker sanft aus süßen Träumen. Das wasserfeste Duschradio bringt uns so richtig in Schwung. Beim Frühstück läuft BR-Heimat im Digitalradio und das hören wir auch auf dem Weg zur Arbeit im Auto. Wenn möglich läuft auch dort das Radio im Dauerbetrieb und auf der Heimfahrt sowieso. Vielleicht fahren wir auch mit dem ÖPNV und haben fette Kopfhörer auf oder AirPods in den womöglich frisch gereinigten Ohrwascheln. Des Abends gibt es Musik im TV oder live im Wirtshaus, bei einer Veranstaltung oder im Konzertsaal. Es ist also gar nicht so abwegig, dass uns bestens gespielte und aufbereitete Musik die komplette Wachphase über begleitet. Oftmals auch gegen unseren Willen, etwa wenn wir beim Einkaufen in den Läden scheinbar kaufstimulierend beschallt werden. Besonders auffällig und nervig ist das in der Adventszeit. Last Christmas lässt grüßen. Also, vom Aufwecken bis zum Einschlummern gibt’s was auf die Ohren, ob man will oder nicht.
»Dass Musik wirkt,
ist also eine klare Sache.«
Überall und jederzeit
Die Verfügbarkeit von Musik hat sich in den letzten Jahren enorm verändert. Dank moderner Technologie und digitaler Plattformen ist Musik heutzutage nahezu überall und jederzeit verfügbar. Und die Menge an zur Verfügung stehender Titel ist gigantisch: Insgesamt waren 2022 rund 239.000 verschiedene Titel auf physischen Tonträgern (CD, LP etc.) verfügbar. Die Nutzung von Medieninhalten und Musik verlagert sich allerdings rasant weiter vom Analogen ins Digitale. Das Onlinegeschäft ist für die Musikbranche entsprechend zum entscheidenden Wachstumstreiber geworden. Im physischen Bereich werden dagegen heute nur noch etwa ein Viertel so viele Tonträger verkauft wie noch vor 10 Jahren: 2022 waren es rund 25 Millionen CDs, Vinyl-LPs und Musikvideos, die sich Fans entweder in Geschäften kauften oder nach Hause liefern ließen. 2013 hatte die Zahl noch bei 98 Millionen gelegen. 2022 ist der Absatz von physischen Tonträgern gegenüber 2021 um gut ein Fünftel (20,5 %) zurückgegangen. Im digitalen Bereich steht den Musiknutzern die gigantische Zahl von rund 3,4 Millionen Titeln Tag und Nacht zur Verfügung. Das hat zweifellos Auswirkungen auf unseren Alltag und die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren.
Musik von einem anderen Stern
Versetzen wir uns hundertfünfzig oder zweihundert Jahre zurück. Gehen wir mal davon aus, wir hätten auf dem Land gelebt. Wie war das da mit der Musik? Es gab kein Radio, kein Fernsehen, keine Jukebox und kein Ghettoblaster und schon gar kein Streaming. Musik gab es nur handgemacht und unverstärkt – und äußert selten, nur zu besonderen Terminen: sonntags in der Kirche, zu Brauchanlässen wie an der Fastnacht, Kirchweih oder Hochzeiten und vielleicht noch beim Singen in der Familie oder bei gemeinschaftlichen Arbeiten. Fertig. Mehr war nicht. Und dann war es etwas ganz Besonderes, das die Menschen emotional gepackt hat. Der Schwarzwälder Hirtenbub Josef Schultis, der später Stadtkapellmeister in seiner Heimatstadt werden sollte, beschrieb seine erste Begegnung mit Musik Ende des 19. Jahrhunderts folgendermaßen: »Hier im (Gasthaus) Rössle hörte ich zum ersten Mal eine große Musikkapelle, es war die Stadtkapelle von Furtwangen. War das ein Erlebnis für mich! Wie diese Musik mich beeindruckte, kann ich gar nicht beschreiben. Ich glaubte, diese Menschen kamen von einer anderen Welt und konnte sie gar nicht genug bewundern.«
Heute ist eine Blaskapelle nichts Besonderes mehr. Überhaupt ist Musik nichts Besonders mehr. Sie scheint unendlich verfügbar. Musik wird im Alltag vieler Menschen in Deutschland immer wichtiger. Beim Musikhören liegt das Radio weit vor allen anderen Nutzungsarten, soziale Medien spielen nur eine untergeordnete Rolle. Pro Woche haben Menschen in Deutschland 2022 im Durchschnitt 21 Stunden Musik gehört. Tendenz zunehmend. Das zeigt der aktuelle Engaging with Music-Report von IFPI (International Federation of the Phonographic Industry), dem Dachverband des Bundesverbandes Musikindustrie.
Phonograph und Grammophon ebneten den Weg.
Der Phonograph ermöglichte 1888 die wohl älteste Tonaufnahme der Welt: Schall wurde mit einem Trichter aufgefangen, an eine Membran weitergeleitet und mit einer Nadel als Spur auf eine Wachsrolle geritzt. Die Qualität der Aufnahme war aber eher keine Offenbarung – die gab es erst mit dem Grammophon. Mittlerweile befinden wir uns im Jahr 1897: Die erste Schellackplatte mit wenigen Minuten Spieldauer ebnet den Weg, der heute in MP3 und Streaming mündet.
Der Rhythmus des Herzschlags
Musik ist unser alltäglicher Begleiter, demzufolge hat sie auf uns einen großen Einfluss. Aber was macht das mit uns? Ist Musik noch etwas Besonderes? Was bewirkt die dauernde Musikbeschallung in uns? Werden wir fröhlicher, antriebsamer, ruhiger, hektischer?
Wir werden schon mit Rhythmus im Blut geboren. Das heißt, seit der ersten Minute unseres Lebens spüren wir einen Herzschlag in uns und nehmen später die Intervalle unserer Atmung als Takt wahr. Rhythmus ist daher tief in uns verankert. Aus diesem Grund löst auch von außen eingehende Musik eine intensive Wirkung in unserem Körper aus. Schnelle Titel können uns vitalisieren und zum Mitwippen anregen oder stressen, wohingegen uns sanfte Pianoklänge entspannen lassen. Musik hat einen Einfluss auf zahlreiche physikalische Vorgänge im Körper: Sie verändert den Herzschlag, beeinflusst Atemfrequenz und Blutdruck und wirkt sich auf Muskelspannung und Hormonhaushalt aus. So kann Musik beflügeln, glücklich stimmen, beruhigen, entspannen, Erinnerungen wachrufen und sogar Schmerzen lindern. Denn Musik bewegt Menschen auf ganz vielen verschiedenen Wegen: Sie löst Emotionen aus, weckt Energie, motiviert und bringt Menschen zusammen. Musik kann außerdem Erinnerungen wachrufen und Schmerzen lindern. Dass Musik wirkt, ist also eine klare Sache. Musik dringt direkt in den Kern der Gefühlszentrale vor. Wer Musik hört, der öffnet sich körperlich und seelisch für den Reiz. Besonders auf die Psyche und verschiedene psychische Prozesse kann Musik einen starken Effekt haben. Welche das sind, weiß Clemens Wöllner, Professor für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg: »Die wohl stärkste psychische Wirkung von Musik ist ihr Einfluss auf unsere Emotionen. Das ist für viele Menschen sogar einer der Hauptgründe, warum sie Musik hören«, sagt Wöllner.
Musik weckt Gefühle
Musik kann dabei alle möglichen Gefühle wecken. Mal macht die Musik fröhlich, heiter, ausgelassen oder sie motiviert und gibt Kraft. Andere Stücke stimmen eher sentimental, traurig oder sogar wütend. »Binnen Bruchteilen von Sekunden findet da ein Abgleich statt, ob man das Stück schon mal gehört hat, ob es mit einer spezifischen Situation oder Lebensphase verknüpft ist. Manchmal muss man nur ein paar Töne hören und kommt sofort in die Stimmung, die man vor 20, 30 Jahren hatte. Das ist in der Forschung als ›Casablanca-Effekt‹ bekannt, benannt nach dem Film, in dem dasselbe Musikstück die Protagonisten immer wieder an vergangene Zeiten erinnert.«, so Wöllner.
Es liegt nicht nur an der Musik selbst, was sie mit einem Menschen macht. »Beim Musikhören gibt es drei Facetten, die eine wichtige Rolle spielen«, sagt Wöllner. »Zum einen das klangliche Material selbst. Dann spielt die Person, die die Musik hört, eine wichtige Rolle mit ihrem Hintergrund, ihrer Biografie. Und schließlich ist der Kontext wichtig, in dem man etwas hört. Ob man dabei alleine oder in einer Gruppe, zu Hause oder auf einem Konzert, auf der Arbeit oder im Feierabend am Badesee ist.« Diese drei Bereiche seien es, die gemeinsam die Wirkung von Musik prägten. Und so kann es kommen, dass der eine vom Musikstück beflügelt wird, beispielsweise wenn er im Auto auf voller Lautstärke fette Technobeats hört, während der danebenstehende Autofahrer davon maximal genervt wird.
Wie hier, können wir uns oft nicht der Musikbeschallung entziehen. Und das wird schamlos ausgenutzt: Viele Millionen Euro geben deutsche Einzelhändler jedes Jahr für Muzak, also kaufstimulierende Musik aus. Sie soll die passende Stimmung im Laden erzeugen und unangenehme Stille verhindern. Kunden sollen sich wohler und entspannter fühlen und dadurch kaufbereiter werden. Kühe geben schließlich bei Mozart-Beschallung auch mehr Milch. Aber die Zielgruppen sind oft sehr heterogen – manche Kunden stört diese Art Musik einfach nur. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Musik kann auch schädlich sein. So sind ein Viertel der jungen Erwachsenen aufgrund ihrer Musikhörgewohnheiten irreversibel hörgeschädigt. Autounfälle nach Diskobesuchen sind zu zwei Dritteln Folgen von zu lauter Musik während des Diskobesuchs und nicht von Alkohol.
Tonband, Schallplatte und Kassette finden den Massenmarkt
1935 wurde das Magnetophon K1 auf der 12. Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt. Als Tonträger diente hier ein Kunststoffband mit magnetisierbarer Eisenoxydschicht. Laufwerk, Verstärker und Lautsprecher wogen zusammen 100 Kilogramm. Von Musik zum Mitnehmen war man noch weit entfernt.
Seit 1948 werden Schallplatten aus Vinyl gefertigt. Das Material ist stabiler als Schellack und auch die Tonqualität verbessert sich hörbar. Die Schallplatte hat über Jahre einen echten Siegeszug durch Diskotheken, Bars, Cafés und bei Privatpersonen angetreten: ein echter Boom.
1963 wurde Musikgenuss revolutioniert: Die erste Musikkassette kam auf den Markt. Neben ihrer hohen Robustheit überzeugte auch, dass man sogar selbst Musik aus dem Radio aufnehmen und eigene Mixtapes daraus erschaffen konnte. Ab 1979 machten tragbare Kassettenspieler die Musik dann schließlich mobil.
Der Tonträgermarkt sollte aber noch von einer weiteren Erfindung durcheinandergewirbelt werden. Die Compact Disc – kurz CD – fand rasenden Zuspruch: Eine überragende Klangqualität, kein lästiges Umdrehen und ihre längere Abspieldauer überzeugten. Und auch für die CD wurden zusätzlich zu stationären Anlagen auch mobile Abspielgeräte entwickelt.
Die Macht der Musik
Insgesamt hat die Verfügbarkeit von Musik zweifellos viele positive Auswirkungen auf unseren Alltag. Sie ermöglicht uns, unsere Lieblingsmusik jederzeit zu genießen und kann uns dabei helfen, unsere Stimmung zu verbessern. Aber Musikberieselung oder Zwangsbeschallung, ob man will oder nicht, etwa im Kaufhaus, Physiotherapie, Campingplatz, von Nachbarn im Garten – das ist unangenehm bis schmerzhaft. Fette dröhnende tiefe Beats im Nachbarfahrzeug an der Ampel nerven einfach nur. »Bestimmte klangliche Muster rufen zuverlässig ein Gefühl der Bedrohung hervor und hierzu eignen sich besonders die tiefen Frequenzen, also das Grummeln und das Beben der Erde, wenn die Dinosaurier kommen, das hat für uns die Folge der Desorientierung, wir haben keine Möglichkeit, die Schallquelle zu orten, wenn sie sehr tiefe Töne enthält«, sagt Prof. Reinhard Kopiez, Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Die Wirkung des gleichen Stücks kann also bei zwei Menschen sehr unterschiedlich ausfallen, egal ob es um Emotionen, Kognitionen oder den Körper geht. Auf all diesen Ebenen kann Musik helfen, schaden oder verbinden. »Es ist diese Vielfältigkeit«, so sagt der Musikwissenschaftler Clemens Wöllner, »die die Macht der Musik ausmacht.«
Lärm-Folter
Immer wenn es um Macht geht, geht es auch um Machtmissbrauch. So kann Musik auch als Folter- oder Todesmethode verwendet werden. Können Klänge wirklich töten? Zumindest der chinesische Polizeiminister Ming-Ti im 3. Jahrhundert v. Chr. war davon überzeugt: »Wer den Höchsten schmäht, der soll nicht gehängt werden, sondern Flötenspieler, Trommler und Lärmmacher sollen ihm ohne Pause so lange vorspielen, bis er tot zu Boden sinkt. Denn das ist der qualvollste Tod, den ein Mensch erleiden kann.«
In der Antike soll die Todesstrafe manchmal nur allein durch Trommeln vollzogen worden sein und auch das Mittelalter kennt die Lärm-Folter: Opfer wurden an einer Tag und Nacht geläuteten Glocke festgeschnallt und dabei in den Wahnsinn getrieben. Ähnliches gilt auch für die Meldung, nach der das US-Militär in Bagdad Songs der Heavy-Metal-Band Metallica einsetzte, um irakische Gefangene zu – wie es heißt – »kooperativem Verhalten« zu bewegen. Stundenlang wurden die Inhaftierten auf hoher Lautstärke mit der Musik der Rockband beschallt, bis ihre Widerstandskraft gebrochen war. Einer der Befrager erklärte dem Newsweek-Magazin: »Glauben Sie mir, es funktioniert, diese Leute haben noch nie Heavy Metal gehört, sie halten das nicht aus. Wenn du einem das 24 Stunden lang vorspielst, dann beginnen Körper und Gehirn zu versagen, deine Gedanken werden langsamer, und dein Wille ist gebrochen. Dann kommen wir rein und reden mit ihnen.«
Von allen Sinnen sind es das Riechen und das Hören, denen wir uns nicht entziehen können. Darauf sollte jeder Rücksicht nehmen. Jeder soll die Musik hören, die ihm gefällt und die ihm guttut, aber er soll sie für sich hören und nicht andere zwangsbeschallen. Egal ob in der Bahn, im Auto oder im Laden. Das nervt und stresst. Ruhe ist in diesen ohnehin lauten und unruhigen Zeiten ein besonderes Gut, das es zu bewahren gilt. Ich selbst höre gerne meine (Volks-)Musik. Aber niemals würde ich jemanden gegen seinen Willen mit meinem zugegebenermaßen sehr eigenen Musikgeschmack beschallen. Daher ist das hier auch ein Plädoyer für die Inseln der Ruhe. Und zum Schluss noch meine Interpretation des Kant’schen kategorischen Imperativs: »Die Freiheit des Einzelnen geht so weit, bis sie die Freiheit eines anderen einschränkt! Wir sind ja schließlich nicht in China.«
Audiomedien: Alles scheint möglich.
Ein paar Jahre lang war der größte neue Hype in der Musikwelt die MP3 – da mit diesem Dateiformat und dem Aufkommen des Internets optische Datenträger scheinbar überflüssig wurden. Musiktauschbörsen boomten – nicht immer ganz legal. Heute hat dies das Musikstreaming größtenteils übernommen. Hier wird die Musik nicht heruntergeladen, sondern einfach gegen Gebühr mit der Musikanlage oder dem Smartphone von der Datenbank eines Anbieters abgespielt. Das spart besonders auf dem Smartphone wertvollen Speicherplatz. Die Musikkassette ist ganz verschwunden, Vinylschallplatten sind nur etwas für Liebhaber und die CD ist auf dem Weg in die Versenkung. Nicht zuletzt deswegen sind viele Künstler auf Tour, weil sie mit CD-Verkäufen kein Geld mehr verdienen und Streaming nicht annähernd das einspielt, was man mit CDs verdient hat.
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