Text: Peter Oberosler
Im Jahre 1819 wurde in den österreichischen Erbländern der Habsburger Monarchie das erste amtliche Volksmusiksammelunternehmen vorgenommen. Die Idee für diesen großangelegten Volksmusikaufruf hatte der erste Sekretär der Gesellschaft der Musikfreunde Wiens, Joseph Sonnleithner (1766–1835).
Sonnleithner, gebürtiger Wiener, war in mehreren Ämtern tätig und unterhielt Beziehungen zu den unterschiedlichsten Gesellschaftskreisen. Er arbeitete u. a. als Beamter, Archivar und Schriftsteller und pflegte Kontakte zu Komponisten wie Joseph Haydn, Antonio Salieri und Ludwig van Beethoven.
Mit allerhöchster Genehmigung
Um seinem Volksmusiksammelaufruf eine amtliche Prägung zu verleihen, benötigte er zunächst mehrere Unterschriften von den einflussreichsten Politikern des österreichischen Kaiserstaates. Die wichtigste Einwilligung zur Genehmigung der Sammelaktion kam vom Obersten Kanzler und Minister für Inneres, Franz Joseph Graf von Saurau (1760–1832), der das Einverständnis gab, die Sammelaktion durchführen zu lassen. Die von Sonnleithner ausgearbeiteten Kriterien, die festlegten, nach welchen Musikstücken gesucht wurde, leitete der Vorsitzende der Gesellschaft der Musikfreunde, Landgraf Joachim Egon von Fürstenberg (1749–1828), an das Innenministerium weiter:
- Profane Volksgesänge, bloß für die Singstimme gesetzt.
- Die dazugehörigen Texte so vollständig als möglich, vorzüglich die älteren, mit der Bemerkung, in welcher Gegend sie meist gesungen werden.
- Die Melodien der Nationaltänze, vorzüglich solcher, die bey besonderen Festlichkeiten, Hochzeiten, Leichenfeyern aufgeführt werden.
- Die Kirchenlieder, welche sich seit vielen Jahren erhalten haben.
- Die namentliche Kenntniß der vorzüglichen Beförderer der Musik um mit ihnen in unmittelbare Korrespondenz treten zu können.«1
Dieses Schreiben richtete sich an die Kreisämter der Länder Tirol, Niederösterreich, Steiermark, Oberösterreich (zu dem damals Salzburg gehörte), das Königreich Illyrien, Böhmen, Dalmatien, Mähren und Schlesien. Die Richtlinien wurden an Kenner des dörflichen Musiklebens, Chorregenten, Pfarrer, Schullehrer und Organisten weitergeleitet. Das besondere an der Sonnleithner-Sammlung ist, dass sie aus der ersten Umfrage mit ausschließlich volksmusikalischer Fragestellung hervorging. Wie Punkt 3 der Einsendung zu entnehmen ist, sollten nicht nur Lieder, sondern auch Instrumentalmusikstücke nach Wien ins Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde eingesandt werden. Ihr jeweiliger Kontext sowie die Schreiber und Übermittler der Lieder und Stücke sollten dabei ebenfalls berücksichtigt werden (sh. Punkt 5). Zudem war es Sonnleithner wichtig, dass auch Kirchenlieder (sh. Punkt 4) gesammelt werden. Der erste Brief des Sammelunternehmens mit den Richtlinien der Musikalien erreichte das Kronland Tirol und Vorarlberg am 24. Januar 1819. Insgesamt war die Rücklauffrist der von Sonnleithner gewünschten Lieder und Stücke auf 14 Tage bemessen.
Reichhaltige Einsendungen
Blickt man zurück in das Jahr 1819, so war Tirol noch stark von den Napoleonischen Kriegen gezeichnet. Umso erstaunlicher war es, dass das Sammelunternehmen dennoch durchgeführt werden konnte und dass aus Tirol und Vorarlberg 276 Musikaufzeichnungen – 119 Lieder und 157 Instrumentalmusikstücke – in Wien eingegangen sind. Das Sammelgut beinhaltet Lieder und Instrumentalmusikstücke zu den verschiedensten Anlässen, u. a. Weihnachtslieder, Wirtshauslieder, Hochzeitslieder, Totenlieder, Schullieder und Lieder für kirchliche Feiern. Unter den Instrumentalmusikstücken finden sich Deutsche Tänze, Menuette, Rondi, Ländler, Walzer, Märsche und Contretänze. Der Bestand zeichnet sich durch ein breit gefächertes Instrumentarium aus. So wurden Lieder und Stücke für Gitarre, Orgel, Violine, Kontrabass, Schwegel, Klarinette und Klavier nach Wien geschickt.Riesiger Fundus
Die Bestände des Sammelunternehmens Joseph Sonnleithners befinden sich heute im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Der Gesamtbestand mit ca. 3.500 Liedern und Vierzeilern, wovon ca. 500 geistliche Lieder sind, ist per Bestellschein einsehbar. Vollständig gesichtet und systematisiert wurde der Bestand erstmals durch Walter Deutsch und seine damalige Assistentin Gerlinde Hofer (später: Haid) und ging mit der Gründung des Instituts für Volksmusikforschung 1965 an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien einher. Das Ergebnis dieser Arbeit war der zweite Band der Reihe Schriften zur Volksmusik: Die Volksmusiksammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Sonnleithner-Sammlung), 1. Teil, herausgegeben von Deutsch und Hofer und erschienen im Verlag A. Schendl. Dieser Katalog von 1969 – vier Jahre nach der Gründung des Instituts für Volksmusikforschung – enthält ein Verzeichnis der Liedanfänge sowie ein Orts- und Landschaftsverzeichnis aller eingelangten Lieder und Stücke der Sonnleithner-Sammlung. Zudem gibt es auch ein Namensverzeichnis der angeführten Schreiber und Musikförderer. Bei dieser Art der Ersterfassung wurden die Lieder mit ihrer jeweiligen Tempoangabe, ihrem Titel, ihrem Text-Incipit, der Anzahl der gesungenen Strophen, den Besetzungsangaben sowie den Einsendeorten angegeben. Widmungen, Kompositionsdatum und zusätzliche Angaben zum jeweiligen Einsender/Schreiber wurden ebenso hinzugefügt. Für das Bundesland Tirol und Südtirol erschien 1985 eine von Karl Horak (1908–1992) erarbeitete Quellenausgabe der im damaligen Tirol aufgezeichneten Instrumentalstücke der Sonnleithner-Sammlung. Dabei handelt es sich um Transkriptionen und kurze Kommentare zu den einzelnen Stücken. Auch Auszüge des Briefverkehrs der Einsender wurden dabei veröffentlicht.2 Eine genaue Aufarbeitung des gesamten Bestandes von Tirol wurde allerdings noch nicht vorgenommen.
www.a-wgm.at – Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Anmerkungen:
1) nach Deutsch 1977, Sp. 1934. 2) Horak 1985, S. 35–64, S. 290–294.Dieser Text erschien bereits in der Mitgliederzeitschrift des Tiroler Volksmusikvereins. g’sungen und g’spielt: 44/3/2019: Kaiser, Kinig und Kasmuas.
Literaturhinweise
- Arnold Blöchl: Volksmusik in Oberösterreich, Melodiarium zu Wilhelm Paillers Weihnachts- und Krippenliedersammlung, herausgegeben in den Jahren 1881 und 1883, Wien 2000 (Corpus Musicae Popularis Austriacae 2000, Band 13: Volksmusik in Oberösterreich).
- Walter Deutsch / Gerlinde Hofer (Hg.): Die Volksmusiksammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (Sonnleithner-Sammlung), Teil 1, Wien 1969 (Schriften zur Volksmusik, Band 2 ).
- Walter Deutsch: Nationale Volksmusiksammlungen in der k. u. k. Monarchie, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, Band 63, Wien 2014, S. 30−46.
- Walter Deutsch: Tirol in der Sonnleithner-Sammlung, in: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 19 (1977), S. 1934−1939.
- Anton Dörrer: Johann Strolz (1780–1835), zum 150-Jahr-Gedenken seiner Mundart- und Volksliedarbeiten, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, Band 6, Wien 1957, S. 16–38.
- Gerlinde Haid: Volksmusik in Tirol im 18. und 19. Jahrhundert, in: Kurt Drexel / Monika Fink (Hg.): Musikgeschichte Tirols. Band 2: Von der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 2004 (Schlern-Schriften 322), S. 649−738.
- Gerlinde Haid: Volksliedsammlung, in: Oesterreichisches Musiklexikon online: http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_V/Volksliedpflege.xm [aufgerufen am 6. 7. 2019]
- Karl Horak (Hg.): Instrumentale Volksmusik aus Tirol, Innsbruck 1985 (Volksmusik in Tirol, Band 2 ).
- Klaus Petermayr: Volksmusik in Oberösterreich. Lieder und Tänze um 1800 im Hausruckviertel aus der Sonnleithner-Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Wien 2006 (Corpus Musicae Popularis Austriacae 2006, Band 18: Volksmusik in Oberösterreich).
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