Mit Wandern hatten sie nichts am Hut, die Leute von der Wanderlehrgruppe, wenn man sich also fröhliche Jugendliche vorstellt, die mit Klampfe und Rucksack durch die grüne Landschaft ziehen, liegt man falsch. Viel unterwegs waren sie allerdings schon und mit jungen Leuten hatten sie auch zu tun: Von 1953–1969 besuchten die Mitglieder der Wanderlehrgruppe vor allem Jugendgruppen landauf landab in ganz Bayern und sangen, tanzten und spielten mit ihnen.
Text: Steffi Zachmeier
Gründer und Herz der Wanderlehrgruppe war Fritz Herrgott (1922–1992). Als ehemaliger Singleiter bei den Latter Days Saints-Scouts (Mormonen), dem Jungvolk und bei der Hitlerjugend war er in den 1940er-Jahren Student an der Münchner Universität. Nach einer Vorlesung von Kurt Huber habe dieser ihn damals auf die Möglichkeiten von Volkslied-Forschung und -Pflege »im Zusammenhang mit einer umfassenden Volkstumspflege« [Herrgott 1964, 147] aufmerksam gemacht und habe versucht, Fritz Herrgott für diese Arbeit zu begeistern.
Studentische Gruppe zur Pflege des bayerischen Liedgutes
Unter Herrgotts Leitung entstand schließlich tatsächlich eine studentische Gruppe »zur Pflege des Bayerischen Liedgutes«, die sich seit etwa 1946 im Gebäude des jetzigen Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege bzw. dessen Landesstelle für Volkskunde traf und sich mit bayerischen Liedern und Tänzen beschäftigte.
Der Gruppe gehörten damals auch die späteren Kollegen Elmar Götz und Kurt Becher an, der seit seiner Gymnasialzeit in der katholischen Jugendbewegung beim Bund Neudeutschland engagiert gewesen war. Nach der Währungsreform entwickelte sich die Gruppe zu einer volkskundlichen Forschungsgruppe und wurde zum musischen Musterkofferl des Jugendherbergsverbandes. Fritz Herrgott kam dadurch in engeren Kontakt mit dem Bayerischen Jugendring und wurde schließlich Mitglied der Fachausschüsse für Musik und Tanz.
Schon 1951 berichtet er, dass mehrere Tanzlehrgänge durchgeführt wurden: zum einen fanden sie auf überregionaler Ebene mit Vertretern aus ganz Bayern statt und zum anderen auf regionaler Ebene bei einzelnen Kreisjugendringen.Singen und Spielen hatte, wie bei den späteren Lehrgängen der Wanderlehrgruppe, bereits einen festen Platz. Das endgültige Konzept entstand jedoch erst während einer 1951 angelaufenen Wanderausstellung zum Anfassen. Sie hatte den Titel Junges Leben in junger Gemeinschaft und sollte den Jugendlichen Anregungen für die Freizeitgestaltung geben. Fritz Herrgott, technischer und musischer Betreuer der Ausstellung, berichtet: »So manche Schulklasse und Jugendgruppe erlebte zwischen den Ständen unserer Ausstellung ein erstes ›Offenes Singen, Spielen und Tanzen‹. Wir begnügten uns aber bald nicht mehr mit der Arbeit in der Ausstellung, sondern zogen hinaus […] und vertieften in offenen Jugend- und Dorfabenden die optischen Eindrücke der Ausstellung.« [Herrgott 1988, 75]
Die Wanderlehrgruppe unterwegs
Als einmal wegen ungenügender Vorbereitung am Ort kein Raum zur Verfügung stand, wurden vom zuständigen Kreisjugendring »zwei Taxis für eine Woche gechartert, und wir fuhren zu Schulen, Jugendgruppen und einfachen Dorfveranstaltungen.« [Herrgott 1988, 76]. Schließlich trennte man sich ganz von den Ausstellungsstücken und führte die Arbeit »ohne Sperrgut« fort: Im September 1953 lief das Projekt Wanderlehrgruppe an. Finanziert wurde es vom Bund, später vom Staat Bayern aus Mitteln des Grenzlandprogramms, wozu auch kulturelle Zonenrandförderung gehörte. Deshalb beschränkte sich die Arbeit vorerst auf die bayerischen Grenzgebiete zur DDR und CSSR. Erst ab 1958 war ein weiteres Team auch in den anderen bayerischen Gegenden unterwegs.
Mit einem VW-Kombi, zärtlich Mops genannt, beglückten die Mitglieder fortan Jugend- und Kindergruppen und Schulen verschiedenster Art. Neben der Basisarbeit richteten sie sich an Jugendleiter, Lehrkräfte und Erzieher in Gruppenstunden, Einzelveranstaltungen und ganzen Fortbildungswochen.
Musische Mehrkämpfer für Gemeinschaftsbildung
Als »musische Mehrkämpfer« haben sie sich dabei scherzhaft bezeichnet, weil sie so viele Bereiche abdecken konnten. Zwar war man im Kontakt mit Erna Schützenberger, der Tanzkennerin im Bayerischen Wald und auch mit dem Liedersammler Kiem Pauli, die sich um die einheimischen Überlieferungen kümmerten, für die Wanderlehrgruppe waren diese Inhalte jedoch nur das Material, mit dem es gut zu arbeiten war. Fritz Herrgott nennt als wesentliches Auswahlkriterium die »gemeinschaftsbildende Kraft«.
Deshalb beschränkten sie sich keineswegs auf Lieder und Tänze aus Bayern, vielmehr wurde alles benutzt, was diesem Zweck diente. »Daß zu Liedern eventuell neue Strophen hinzukamen, daß Tanzformen verändert wurden, daß Spiele eventuell mit neuen Namen versehen wurden, ist aus dieser Sicht zu akzeptieren, ging es uns doch immer um die sozialpädagogischen Mittel, nicht um den Stoff an sich«, schreibt Fritz Herrgott. [Herrgott 1984, 65]
Von der Münchner Polka zum Cha-Cha-Cha lautet denn auch der Titel eines Tanzheftes, das 1964 den teilnehmenden Multiplikatoren der Fortbildungen Hilfestellung bieten sollte. Neben 18 bayerischen Tänzen enthält es auch eine Abteilung Tänze aus Europa, Tänze aus Ost und Südost und Tänze aus Amerika. Es finden sich Titel, die auch heute in der Volkstanz-Szene verbreitet sind: Die Troika beispielsweise, der Kontrawalzer, heute auch Durchgangswalzer genannt und der Maine Mixer. Ein Jahr vorher war schon eine entsprechende Liedersammlung erschienen und bereits 1960 mit Vom Heimspiel zum Stegreifspiel ein Heft zum Thema Spielen.
Nachwirkungen
Mehrere Wochen am Stück waren die Teams jeweils im Land unterwegs. Das hielten nicht alle Mitglieder auf längere Zeit durch und das war auch für deren Familien nicht angenehm. Allein im Jahr 1962 wird von über 1.100 Veranstaltungen mit 48.000 Teilnehmenden berichtet. Und so fand sich offenbar 1969 niemand mehr bereit die enormen Kraftanstrengungen auf sich zu nehmen. Die Wanderlehrgruppe beendete ihre Fahrten und die Mitglieder suchten sich ortsfeste Stellen – zumeist in der Jugendarbeit. Die Nachwirkungen sind jedoch in ganz Bayern in der Volksmusikszene noch immer spürbar: Einzelne Personen, die an den Lehrgangs-Inhalten der Wanderlehrgruppe Gefallen gefunden hatten, trugen sie weiter, wie z. B. Rudi Bayerl, der ab 1974 als Neumarkter Kreisheimatpfleger gewirkt hat. [Dennerlohr 2012]
Erste Erfolge
Die Vorstellung selber war dann ein voller Erfolg, das Programm lief wie am Schnürchen. Tatsächlich waren im Zuschauerraum alle Stühle besetzt, unter den Besuchern fanden sich vor allem deutsche Ausgewanderte aber auch viele Einheimische. Dasselbe Programm wurde auch bei allen anderen Auftritten in Barcelona gezeigt, welches überall großen Zuspruch erzielte.
»Bald waren wir auch daran gewöhnt, dass sich Scharen von Freunden und Bewunderern am Bühnenausgang einfanden um uns nochmals die Hand zu drücken und uns zu versichern, wie groß ihre Freude sei, dass sie diesen Abend miterleben durften.«
Neben den Veranstaltungen war für die Gruppe natürlich auch die Möglichkeit zu Ausflügen gegeben und ein Stierkampf wurde angesehen. Auch Verpflichtungen wie ein Empfang beim Bürgermeister im Rathaus oder dem Generalkonsul der Bundesrepublik waren vorgesehen.
Infiziert von der Wanderlehrgruppe: Rudi Bayerl
Auch Rudi Seibold erzählt, es sei durchaus vorgekommen, dass ein Mitglied »nach Jahren in einem Ort Jugendliche angetroffen hat, die ihm erzählten, daß sie vor zwei, vier, fünf … Jahren in der Berufsschule, Kindergruppe, … dieses Lied von einem selbst oder von einem Kollegen gelernt haben und heute noch können.« [Seibold 1984, 185] Es wäre spannend, zu wissen, was aus diesen Kenntnissen geworden ist.
Kurt Becher, der vier Jahre mit der Wanderlehrgruppe unterwegs war, nahm die Erkenntnisse und Impulse mit in seine Arbeit beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Dort war er seit 1963 Geschäftsführer und baute besonders den Volksmusikpflege-Bereich aus. Im Programm der Volksmusikwochen in Herrsching und anderswo finden sich noch heute viele vorher bei der Wanderlehrgruppe erprobte Elemente wieder. Selbst einige der vorherigen Mitarbeiter hatte er in den ersten Jahren als Referenten eingebunden, wie Rudi Seibold und den Werklehrer Hans Schumm.
Heute die Geschäftsstelle des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege, ab etwa 1946 Treffpunkt einer studentischen Gruppe »zur Pflege des Bayerischen Liedgutes«.
Dass die Tätigkeit der Wanderlehrgruppe keine Einbahnstraße war, bezeugt das Lawinenlied vom Vetter Michel. Fritz Herrgott hatte es laut Liedblatt in Ostheim/Ufr. gehört und ins Repertoire aufgenommen. Auch Kurt Becher hat es gern bei den Volksmusikwochen mit den Teilnehmenden gesungen, von wo es in den 1980er-Jahren Franz Josef Schramm mit nach Hause brachte. Dessen Vater kommentierte, dass er das Lied schon aus seiner Kindheit kenne, auch habe er es Jahre vorher mal einem Mann vorgesungen, der es damals aufgeschrieben hat … Das Lied seines Vaters singt er nun selbst gern wieder mit den Leuten – als Volksmusikpfleger beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege.
Literatur:
Jürgen Dennerlohr. 2012. Leidenschaft für Brauchtum und Historie: Der Kreisheimatpfleger und stellvertretende Landrat Rudi Bayerl feiert heute seinen 70. Geburtstag. Neumarkter Nachrichten, 10. März. https://www.nordbayern.de/region/neumarkt/leidenschaft-fur-brauchtum-und-historie-1.1907453 [zugegriffen: 23. Mai 2023]
(Elmar Götz) 1965. Von der Münchner Polka zum Cha-Cha-Cha: Wir tanzen mit der Wanderlehrgruppe des Bayerischen Jugendrings. München: Bayerischer Jugendring.
Elmar Götz. 1988. Tanz in Bayern: Streiflichter von der Wanderlehrgruppe. In: Ereignisse, Begegnungen, Entscheidungen: Zur 40-jährigen Geschichte des Bayerischen Jugendrings, hg. von KdöR Bayerischer Jugendring und Robert Sauter, 86–92. München: Bayerischer Jugendring.
Fritz Herrgott. 1960. Vom Heimspiel zum Stegreifspiel: Wir spielen mit der Wanderlehrgruppe. Bayerischer Jugendring.
Fritz Herrgott. 1963. Treffpunkt: Wir singen mit der Wanderlehrgruppe des Bayerischen Jugendringes. Bosse-Edition 215. Regensburg: Bosse.
Fritz Herrgott. 1964. Zehn Jahre Wanderlehrgruppe. ln: Bezirksheimatpfleger von Unterfranken (Hg.). Heimatpflege in Unterfranken, VI. Volkach vor Würzburg, 147-150, hier 147
Fritz Herrgott. 1984. Die Wanderlehrgruppe des Bayerischen Jugendrings. In: Kurt Becher zum 70. Geburtstag: Beiträge zur Volksmusik und -pflege in Bayern, hg. von Erwin Zachmaier [sic!], Ernst Schusser, und Margit Schusser, 58–74. Stein bei Nürnberg; Bruckmühl.
Fritz Herrgott. 1988. Als der Bayerische Jugendring noch musisch war. In: Ereignisse, Begegnungen, Entscheidungen. Zur 40-jährigen Geschichte des Bayerischen Jugendrings, hg. von KdöR Bayerischer Jugendring und Robert Sauter, 74–84. München.
Rudi Seibold. 1984. Bayerischer Dreiklang. In: Kurt Becher zum 70. Geburtstag: Beiträge zur Volksmusik und -pflege in Bayern, hg. von Erwin Zachmaier [sic!], Ernst Schusser und Margit Schusser, 174–197. Stein bei Nürnberg; Bruckmühl.
Aufmacher-Foto: Fritz Herrgott und Kurt Becher
0 Kommentare