Neue Volksmusik – »Gibt’s des?«

Entwicklungen, Einflüsse und Neuerungen in der Volksmusik in Oberbayern

22. April 2024

Lesezeit: 12 Minute(n)

Häufig wird in den Medien der Begriff Neue Volksmusik verwendet. Auf Nachfrage, was damit gemeint ist, bekommt man viele unterschiedliche Antworten und Definitionen. Ist es ein gelungener Marketingtrick, der mit dieser Wortneuschöpfung das vermeintlich Verstaubte modern erscheinen lassen soll? Gibt es diese neue Volksmusik überhaupt? Wenn ja, gibt es dann auch  eine alte Volksmusik? Die Reaktionen auf Neue Volksmusik sind unterschiedlich: Manche fragen sich: »Braucht’s des?«
Andere begegnen Mixturen von traditioneller Musik und neuen Elementen offen und aufgeschlossen. Dieser Beitrag spürt dem ­Phänomen Neue ­Volksmusik nach.

 

Text: Leonhard Meixner Fotos: Fotosammlung ZeMuLi/Bezirk Oberbayern, Archiv Well

Allgemein ist zu konstatieren: Volksmusik und überlieferte regionale Musikkultur entwickeln sich ganz selbstverständlich weiter, beeinflusst von zeitlichen, personellen, gesellschaftlichen, medialen und sozialen Aspekten. Volksmusik war und ist schon immer Gebrauchsmusik. Sie begleitet uns bei Brauchtumsveranstaltungen, im Kirchenjahr und bei vielen Festen und Feierlichkeiten. Sie ist entgegen der Popmusik nicht kommerziell und wird hauptsächlich von Laien praktiziert.

In den letzten 90 Jahren hat sich in der Volksmusik Oberbayerns viel Neues etabliert. Seien es neue Sing- und Spielweisen, Besetzungen, Spieltechniken oder Einflüsse aus der populären Tanzmusik. Traditionelle Sing- und Spielweisen sowie instrumentale Besetzungen sind oft jünger, als man denkt.

Schöpfung des Begriffs Volkslied

Der Beginn der Thematik liegt im 18. Jahrhundert: Der Dichter und Schriftsteller Johann Gottfried Herder (1744–1803) verwendete 1773 den Begriff Volkslied erstmalig und führte ihn in die deutsche Sprache ein. Herder sammelte Texte aus ganz Europa und begann unter dem Titel Alte Volkslieder 1775 zum ersten Mal mit deren Druck, den er aber nach den ersten Bogen einstellte.1 1778 und 1779 erschien die Sammlung dann unter dem Namen Volkslieder.2 Nach Herders Tod erschien 1807 posthum eine zweite Fassung unter dem Namen Stimmen der Völker in Liedern.

Die Gesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert war damals geprägt durch das Aufkommen eines deutschen Nationalbewusstseins. Im Handwörterbuch der Tonkunst von 1879 ist der Begriff des Volksliedes sehr ausführlich beschrieben: »Volkslied, das für den Gesang gedichtete und wirklich gesungene Erzeugnis der Volkspoesie.«3 Eine weitere Definition des Volksliedes findet sich in Riemanns Musiklexikon aus dem Jahr 1882:

»Volkslied heißt entweder ein Lied, das im Volk entstanden ist (d. h. dessen Dichter und Komponist nicht mehr bekannt sind), oder eins, das in Volksmund übergegangen ist, oder endlich eins, das ›volksmäßig‹, d. h. schlicht und leichtfasslich in Melodie und Harmonie, komponiert ist.«4

Herder weckte im deutschsprachigen Raum das Bewusstsein für die kulturellen Besonderheiten im Volk und legte damit den Grundstein für eine Tradition des Sammelns und Bewahrens von bis dahin mündlich tradierten Liedern, Erzählungen und Märchen. Bedeutende Sammler nach Herder waren beispielsweise die Gebrüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831), aber auch Johann Schmeller (1785–1852).

»Veränderungen durch äußere Einflüsse.«

Aufzeichnung und Sammlung von Volksmusik in Bayern

Auch in Bayern war eine rege Sammelaktivität zu finden: Bis 1900 widmete man sich bei der Sammlung volksmusikalischer Überlieferung mehr dem Volkslied. Im 20. Jahrhundert gewannen der Volkstanz und besonders ab den 1930er-Jahren die instrumentale Volksmusik an Bedeutung.5

Die ersten Sammlungen von ein- bis zweistimmigen Gebirgs- und Volksliedern aus Oberbayern wurden ab 1800 im Druck veröffentlicht:

  • Eugen Napoleon Neureuther (1806–1882): ­Bairische Gebirgslieder mit Bildern (1829/1831)
  • Ulrich Halbreiter (1812–1877): Sammlung ­auserlesener Gebirgslieder (1839)
  • Herzog Maximilian in Bayern (1808–1888): ­Oberbayerische Volkslieder mit ihren Singweisen (1846)
  • Franz von Kobell (1803 –1882): Alte und neue Jägerlieder (1843), Schnadahüpfln und Sprüchl (1845), Oberbayerische Lieder mit ihren Singweisen (1860) – das sogenannte Königsbüchl
  • August Hartmann (1846 –1917) und Hyacinth Abele (1823 –1916): Volksthümliche Weihnachtlieder (1884), Historische Volkslieder und Zeitgedichte (3. Bd. 1907, 1910, 1913)

Vor den 1920er-Jahren war die übliche Singweise in Oberbayern einstimmig oder in paralleler Zweistimmigkeit. In der Regel war die Unterstimme die Hauptstimme. Mit der Volksmusikpflege ab Ende der 1920er-Jahre änderte sich das.

Auch in der Instrumentalmusik gab es schon immer Veränderungen durch äußere Einflüsse. Als Beispiel kann die Türkische Musik für die Entwicklung der heutigen dörflichen Blasmusikbesetzung genannt werden. Ende des 18. Jahrhunderts bildete sich aus der gängigen Harmoniemusik-Besetzung (hauptsächlich Holzblasinstrumente und Blechbläser), die sogenannte Türkische Musik – manchmal auch Janitscharenmusik genannt. Die gängigen Besetzungen wurden um das aus dem Osmanischen Reich eingewanderte Schlagwerk (Schellenbaum, Große Trommel, Zimbeln, und Becken) erweitert.

Um 1850 veröffentlichte Peter Streck (1797–1864), Obermusikmeister beim Bayerischen Militär in München, unter anderem Zwölf Stücke für Kleine Harmonie und türkischer Musik ad libitum. Peter Streck hatte als Militärmusikmeister auch maßgeblichen Einfluss auf die ländliche Tanzmusik. Für die Tanz- und Unterhaltungsmusik in München und Umgebung komponierte, arrangierte und bearbeitete Streck Melodien für verschiedenste Besetzungen. Viele unter Streck spielende Militärmusiker behielten seine Stücke im eigenen Repertoire und nahmen diese Melodien in ihre Heimatorte und Musikkapellen mit. In handschriftlichen Noten von Musikanten im ländlichen Raum finden sich viele Streck-Melodien. Eine Vielzahl von Notenausgaben sind im Archiv im Zentrum für Volksmusik, Literatur und Popularmusik gesammelt.

Kiem Pauli und die Einführung der Dreistimmigkeit

Kiem Pauli (1882–1960) lernte als Musiker am Tegernsee Ludwig Thoma (1867–1921) kennen, der ihm 1919 das Steyerische Raspelwerk (eine umfangreiche Sammlung österreichischer Volkslieder) von Konrad Mautner schenkte. Dies regte Kiem Pauli an selbst Lieder zu sammeln. Kiem Pauli verbreitete auch das drei- und vierstimmige Singen, welches bis dato in Oberbayern nicht vorkam.6 Diese neue Drei- und Vierstimmigkeit verbreitete sich schnell, da viele von Kiem Pauli initiierte Veranstaltungen im Rundfunk übertragen wurden. Ab 1924 gab es die Deutsche Stunde in Bayern, aus der später der Bayerische Rundfunk hervorging. Beim Oberbayerischen Preissingen 1930 in Egern am Tegernsee, das vom Rundfunk übertragen wurde, war Kiem Pauli mit seiner Volksliederarbeit an die breite Öffentlichkeit getreten. Damit verbunden war eine Veränderung der traditionellen Singweise. Vier der Preisträger des ersten Preissingens führte Kiem Pauli zu einem Männerviergesang zusammen. Sein Musterkofferl bestand aus Sepp Sontheim, Peppi Burda, Lois Treichl und Carl Vögele.

Eine weitere Veränderung beim Volksliedersingen wurde mit dem drei- und vierstimmigen Gruppengesang deutlich: Die Volkslieder entwickelten sich in dieser Pflege vom allgemeinen geselligen Volksgesang, wie es in Kiem Paulis Sammlung Oberbayerischer Volkslieder (1934) dokumentiert ist, hin zum Vortragsgesang, der im Laufe der Zeit und durch die Anforderungen des Rundfunks immer perfekter und konzertanter wurde.7

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Kiem Pauli
Annette Thoma, 1966.

Annette Thoma und das neue geistliche Volkslied

Begeistert von dem von Kiem Pauli propagierten Volkslied wandte sich Annette Thoma (1886–1974) der Volksliedpflege zu. Thoma, seit 1932 eng mit Kiem befreundet, wurde von diesem zur Erneuerung des geistlichen Volksliedes angeregt. Es entstanden viele neue Texte und Lieder. Darunter auch die bekannte Deutsche Bauernmesse, in der Annette Thoma überlieferte Melodien verwendete und mit eigenen, zur Liturgie der 1930er-Jahre passenden Texten neugestaltete. Sie suchte vor allem in der Zeitschrift Das deutsche Volkslied, welche ab 1899 von Josef Pommer herausgegeben wurde und sich als eines der ersten musikwissenschaftlichen Organe der Publikation von Volksmusik widmete, nach passenden Liedern für die neuen Gesangsgruppen. Die Zeitschrift wurde nach dem 46. Jahrgang 1944 wegen des Zweiten Weltkriegs eingestellt.8 Am Namenstag des Kiem Pauli, dem 29.6.1933, sangen die Riederinger Buam erstmals die Deutsche Bauernmesse. Annette Thomas Kleine Messe entstand im Jahr 1972. Sie gestaltete mit Tobi Reiser die für unzählige Adventsingen in Oberbayern als Vorbild dienenden ersten Salzburger Adventsingen. Den Weg zum geistlichen Volkslied eröffnete Annette Thoma vielen jungen Seelsorgern in den Freisinger Dombergsingen. In der Sänger- und Musikantenzeitung (1958 ff), deren erste Jahrgänge sie mit Wastl Fanderl herausgab, veröffentlichte sie viele ihrer geistlichen Lieder.9

Wastl Fanderl und seine neuen Lieder

Schon früh eiferte der junge Wastl Fanderl (1915–1991) in seinem Heimatort Bergen dem Kiem Pauli nach und schrieb Lieder auf. In seiner Praxis der Volksliedpflege ließ er gleichermaßen überlieferte und der Überlieferung nachempfundene Lieder gelten. Wo Wastl Fanderl noch Lücken im oberbayerischen Volksliedrepertoire sah, schrieb er zahlreiche neue, eigene Lieder, um diese Lücken zu schließen. Darunter finden sich Lieder wie Heiliger Nikolaus, Sagt an der Schiffleut Namen oder Kimmt schö hoamli die Nacht. Seine Liederbücher Hierankl, Horankl und Annamirl Zuckaschnürl sind weitum bekannt. Durch die Verbreitung im Bayerischen Rundfunk wurden seine Lieder einem breiten Publikum bekannt gemacht. Für das drei- und vierstimmige Singen warb auch er mit seinen Männergesangsgruppen. Mit seiner Rundfunksendung A weni kurz, a weni lang und seinem Bairischen Bilder- und Notenbüchl, das in der ARD ausgestrahlt wurde, erlangte Wastl Fanderl eine große Bekanntheit im ganzen deutschsprachigen Raum und damit verbunden eine große Bedeutung für die Verbreitung neuen Liedguts und der Instrumentalmusik.10

Wastl Fanderl (zweiter von rechts und die Vier vom Gamsstadl auf einer Reise nach Biarritz und Pamplona im Juli 1953.

»Ja Kruzifünferl, das ist ja bärig!«

Ramstötter, von Kaufmann, Fanderl und die Entstehung der ersten Tanzlmusi

Tanzveranstaltungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg musikalisch mit Blasmusik begleitet. Große Blasmusikbesetzungen stellten sich aber als unpraktisch für Volkstanzabende dar. So entwickelte sich um Georg von Kaufmann (1907–1972) und mit der Volkstanzbewegung der 1950er-Jahre die erste Tanzlmusi. Zur Entstehung berichtet Sigi Ramstötter (1929–2023):

»1961 sind schließlich die Chiemgauer Tänze herausgekommen. Altbayerische Tänze hat das blaue Heft geheißen. Der [Noten-]Satz war nicht ganz glücklich, so daß die Musikmeister nicht recht begeistert waren. […] Die ganze Geschichte war nicht ganz glücklich. Wir haben dann trotzdem auf diese Weise ein paar Tänze durchgeführt. Doch es war nichts Rechtes, es war keine Stimmung da. Mit der Ziach alleine war es viel besser, da hat man es in der Hand gehabt. Es war nur zu leise.

Jetzt ist mir der Gedanke gekommen, ohne daß ich dem Kaufmann Schorsch etwas gesagt hätte, diese Volkstänze mit meiner Schrammelmusik zu spielen. […] Die Besetzung war Gitarre, zwei Klarinetten, Harmonika und Baß. Ich habe dann zu meinen Mannsbildern gesagt: ›Paßt auf, wollt ihr mit mir diese Volkstänze einlernen und versuchen, einmal einen Volkstanz zu spielen?‹ Sie stimmten zu. […] Dann haben wir das so im Geheimen eingelernt, und eingelernt haben wir es gut, denn blamieren wollten wir uns absolut nicht, schon vor dem Kaufmann Schorsch nicht. Und als dann wieder so ein Tanz fällig war, sagte ich zum Schorsch: ›Also den nächsten öffentlichen Tanz, den Abschlußtanz, den spiele ich mit einer Musi!‹ ›Was?‹ ›Ja, den spiele ich mit einer Musi!‹ Er hat nichts anderes gesagt als ›Also gut‹. Mehr ist nicht geredet worden.

Dann ist es losgegangen. Ich komme mit der Musi daher. Beim Auftanz hat er immer ein wenig so geschaut, ob ja alles in Ordnung geht. Er hat aber nichts auszusetzen gehabt. Der erste Tanz: Polka-Hüatamadl-Bauernmadl, wie es bei uns so üblich ist, hat hingehauen. Dann hat er schon gelacht, hat gemeint, er muß manchmal ein wenig dirigieren, daß es ja stimmt, dann war es natürlich eine mords Freude. Er hat gesagt: ›Ja Kruzifünferl, das ist ja bärig, jetzt ham ma a Musi aa!‹ […]

Wir haben jahrelang bei Kursen und Tänzen gespielt, aber wir hatten keinen Namen. Auf den Plakaten stand dann ›Volkstanzkapelle Sigi Ramstötter‹ oder ›Volkstanzkapelle Teisendorf‹. […] in einem Gespräch mit dem Fanderl Wastl und dem Kaufmann Schorsch haben wir uns geeinigt. Einer hat etwas gesagt von einem ›Tanzl‹ oder ›Tanzei‹, das er einmal irgendwo gelesen hat, vielleicht in einem alten Heft, und es ist dann der Name ›Tanzlmusi‹ aufgekommen. Von da an haben wir uns dann ›Teisendorfer Tanzlmusi‹ genannt.

Mein Bruder ist erst später mit der Posaune hinzugekommen. Wir waren froh darüber, denn wir mußten immer größere Säle nehmen, weil die Volkstänzer immer mehr wurden. Dadurch habe ich mit der Ziach praktisch nicht mehr die volle Melodie, sondern nur Ausfüllarbeit und Begleitarbeit übernehmen müssen und die drei Solisten (zwei Klarinetten und Trompete, bzw. Trompete, Klarinette und Posaune) haben sich abgewechselt, so daß das also eine richtig runde Sache war.«11

Die Teisendorfer Tanzlmusi im Jahr 1963 in Wastl Fanderls Bairischem Bilder- und Notenbüchl.

Weiterentwicklung der Tanzlmusi und ­Einflüsse von Slavko Avsenik

Mit der Popularität der ab den 1950er-Jahren weit über die Grenzen Österreichs bekannten Gruppe Die Fidelen Inntaler des Tirolers Gottlieb Weissbacher (1907–1988) sowie der ab 1974 bekannten Gruppe Tiroler Kirchtagmusig von Peter Moser (*1935) kam die tirolerische Spielart nach Oberbayern. Die Besetzungen wurden mehr und mehr blechlastig (zwei Flügelhörner, Ventilposaune, Tuba). Hier verbreitete sich auch in Oberbayern ein neues Repertoire mit vielen Stücken aus der Feder von Weissbacher und Moser.

Besonders die Oberkrainer-Musik aus Slowenien hat einen entscheidenden Einfluss auf die Tanzlmusik-Gruppen der letzten zwanzig Jahre. Die stark rhythmisierte Begleitung und die Melodieführung wurden von vielen Gruppen in Oberbayern nach dem Vorbild von Slavko Avsenik (1929–2015) und seinen Original Oberkrainern sowie den Alpenoberkrainern, den Mooskirchnern und vielen weiteren prägenden Oberkrainerformationen teilweise übernommen.

In heutigen jungen Tanzlmusikgruppen wird die Bass-Begleitung oft von einer Ventilposaune geblasen und von einem Kontrabass unterstützt. Dies gibt dem Rhythmus einen besonderen Schub. Die einstige Zweistimmigkeit mit einer einfachen Umspielung der Melodie durch die Posaune wurde mittlerweile fast vollständig durch das dreistimmige Spiel ersetzt. Es bleibt zu bemerken, dass die neuen sogenannten Tanzlmusik-Gruppen kaum bis gar keine Volkstänze im traditionellen Sinne spielen. Die heutigen Tanzveranstaltungen ohne Volkstänze tragen den Titel Boarischer Tanz (Polka, Walzer, Boarischer).

Die Tiroler Kirchtagmusig bei der Veranstaltung 50 Jahre Geschwister Hartbichler beim Maurerwirt in Grainbach im Jahr 2000.

Die Schönauer Musikanten und die Gerstreit Musi – neue Volksmusik-Besetzungen

Auf der Internetseite des Berggasthofs Gerstreit, dem Zuhause von Martin Schwab, ist eine alte Zeitungsankündigung zu sehen, die die Entstehung der Schönauer Musikanten beschreibt:

»Die Schönauer Musikanten verdanken ihre Existenz dem Berchtesgadener Martin Schwab [1916–2012]. Er setzte es sich 1940 partout in den Kopf, das Hackbrettspiel zu lernen. Weil es in Bayern damals keine Hackbretter gab, ließ er sich eines in Salzburg anfertigen. [Tobi Reiser höchstpersönlich zeigte dem Jugendlichen wenig später, wie man die Hackbrett-Schlägel richtig in die Hand nimmt.] […] Schwab war 1946 Mitbegründer der Schönauer Buam, der ersten Volksmusikgruppe; die sich nach dem Krieg zusammengefunden hat. […] 1959 [entstanden dann] mit Hedi Schuster und dem Herbert Lagler die Schönauer Musikanten. […] Zu den Schönauer Musikanten stieß 1967 der Häusler Hias mit der Diatonischen Ziach. Und Wastl Fanderl erfand den neuen Namen: Gerstreit Musi12

Die Schönauer Musikanten sowie die Gerstreit Musi spielten in neuen, bis dato noch unbekannten Besetzungen. Schnell wurden die Gruppen einem breiten Publikum bekannt, was auch an den zahlreichen Auftritten im Bayerischen Rundfunk lag. Mit den Schönauer Musikanten entstand die typische Stubenmusik-Besetzung mit Hackbrett, Zither und Gitarre. Martin Schwab schrieb dazu viele neue Stücke, die auch als Notenherausgaben veröffentlicht wurden und von vielen Musikschülern gespielt wurden und bis heute gespielt werden.

Der Häusler Hias brachte die Steirische Harmonika in die Gerstreit Musi ein. Sie spielten in der Besetzung Ziach, Hackbrett, Gitarre und Kontrabass. Heute denken viele Musikantinnen und Musikanten, dass dies eine sehr gebräuchliche traditionelle Besetzung sei. Die Tatsache, dass diese Zusammenstellung erstmals 1967 erklang und sich angeregt durch diese neue schneidige Besetzung viele neue Gruppen gründeten und dem Vorbild der Gerstreit Musi folgten, zeigt, wie sich Volksmusik, Instrumentarium und Liedgut selbstständig verändern.

Die Schönauer Musikanten Mitte der 1970er- Jahre.
Die Gerstreit Musi Mitte der 1970er- Jahre.

»Neue Volksmusik« – eine Strömung der Popularmusik

Neue Volksmusik laut Österreichischem Musiklexikon online: »In den späten 1980er-Jahren aufkommende Richtung innerhalb der Popularmusik, die lokale Volksmusiktraditionen mit internationalen Strömungen der Jugendmusikkultur vermischt und wegen dieser Verbindung von regional und international zur sog. Weltmusik zählt. Grundlage bildet zumeist die alpenländische Volksmusik […] die auf vielfältige Weise mit Jazz […], Punk und Hip Hop […] oder Disco und Dancefloor […] verbunden wird.«13

Die Biermösl Blosn mit Gerhard Polt, 1980.
Platten- Cover der Hot Dogs.

»… unser grundlegendes musikalisches Kulturgut …«

Bayerische Crossover-Bands als Vertreter populärer Musik

Die Hot Dogs waren ursprünglich eine Dixieland-Jazzband. Sie verjazzten bayerische Lieder und andere volkstümliche Musik und wurden dadurch in ganz Deutschland bekannt. Sie wurden 1955 in München von Studenten der Technischen Universität (damals Technische Hochschule, abgekürzt TH) und Schülern des Maximiliangymnasiums als TH Hot Dogs gegründet. Ihr erster Erfolg war 1966 das Lied Ja, so warn’s, die alten Rittersleut. Für die Profiband bürgerte sich ab 1970 der Name Hot Dogs ein. Nach fast 50 Jahren lösten sich die Hot Dogs im Jahr 2004 auf. 14

In den 1990er- und 2000er-Jahren entstanden viele Musikgruppen, die sich an Elementen aus dem Bereich der überlieferten traditionellen Volksmusik bedienten, andere Musikrichtungen einfließen ließen und sich damit in der Welt der Kleinkunst, Weltmusik oder Popmusik aufhielten oder aufhalten. Solche Gruppen sind beispielsweise: Biermösl Blosn (seit den 1970er-Jahren), Kofelgschroa, Hubert von Goisern (schon in den 1990er-Jahren), LaBrassBanda, Kapelle So&So, DeSchoWieda, Fei scho oder die CubaBoarischen.

Was ist also diese Neue Volksmusik? Ist es eine Stilmischung zwischen Kleinkunst und Kommerz? Der Begriff Volksmusik wird da auch gerne zu Marketingzwecken gewollt oder ungewollt von den Medien benutzt, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen oder sogar zu provozieren.

Soll das sogenannte Verstaubte mit neuem Leben gefüllt werden? Oder liegt es daran, dass man seine eigenen Wurzeln schätzt und sich trotzdem der globalen Welt öffnen und kulturelle Begegnungen fördern möchte?

Das Thema der Neuen Volksmusik wird heiß diskutiert und dabei wird auch stets um eine Definition von Volksmusik als solche gerungen. Eine passende Zusammenfassung findet sich der Meinung des Autors nach auf der Webseite der Abteilung Volksmusik beim Bayerischen Landesverein für Heimatpflege e.V.:

»Volksmusik mit ihren verschiedenen regionalen Ausprägungen trägt wesentlich zur Identitätsfindung der Bevölkerung in Bayern bei. Wir verstehen Volksmusik als unser grundlegendes musikalisches Kulturgut, das mehrheitlich aus der Allgemeinheit kommt und für die Allgemeinheit bestimmt ist. Sie ist einer Dynamik unterworfen, entwickelt sich weiter, verändert sich und steht mit anderen musikalischen Erscheinungen im steten Austausch.« 15

Volksmusikpflege ist dazu da, über die Herkunft der überlieferten Volksmusik zu informieren. Dabei gilt es, Altes und Wertvolles zu erhalten und gleichzeitig an die heutigen Bedürfnisse anzupassen. Die tradierte Musik hat immer eine historische Quelle und die gilt es weiterzutragen. Volksmusik in ihrer Ursprünglichkeit wird als solche immer bestehen. Es wird weiterhin sogenannte Crossover-Projekte geben, die Horizonte erweitern wollen. Die überlieferten Lieder und Weisen wird das aber nicht beeinträchtigen – ganz im Gegenteil. Es kann dadurch nur mehr das Interesse für die überlieferte Volksmusik entstehen.

Anmerkungen:
  1. Herder, Johann Gottfried, Volkslieder. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon (Bd. 7), München 1988, S. 724.
  2. Vgl. Herder, Johann Gottfried, Volkslieder. Erster Theil. Leipzig 1778.
  3. F. Riewe, Handwörterbuch der Tonkunst, Gütersloh 1879, S. 283 f.
  4. Riemann, Hugo, Musik-Lexikon. Theorie und Geschichte der Musik, die Tonkünstler alter und neuer Zeit mit Angabe ihrer Werke, nebst einer vollständigen Instrumentenkunde, Leipzig 1882, S. 982.
  5. Vgl. www.historisches-lexikon-bayerns.de/ (Letzter Aufruf: 22. 1. 2024)
  6. Vgl. Kronfuß, Karl und Pöschl, Felix, Niederösterreichische Volkslieder und Jodler aus dem Schneeberggebiet, Wien 1930.
  7. Vgl. Bezirk Oberbayern (Hg.), »Immer gibt es Neuigkeiten … Eine Reise durch 200 Jahre Volksmusiksammlung und -pflege in ­Oberbayern«, München 1993.
  8. Vgl. Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen: Zeitschrift »Das deutsche Volkslied«. 2002, abgerufen am 28. 8. 2021.
  9. Vgl. www.historisches-lexikon-bayerns.de (Letzter Aufruf: 22.1.2024)
  10. Bezirk Oberbayern (Hg.), »Immer gibt es Neuigkeiten … Eine Reise durch 200 Jahre Volksmusiksammlung und -pflege in Oberbayern«, München 1993.
  11. Bezirk Oberbayern (Hg.), Teisendorfer Tanzlmusi die erste »Tanzlmusi« in Oberbayern. München 1999, S. 11–13.
  12. www.berchtesgadener-anzeiger.de/region-und-lokal/lokales-berchtesgadener-land_artikel,-musikgenie-ohne-notenkenntnis-_arid,28971.html (Letzter Aufruf: 26. 1. 2024)
  13. www.musiklexikon.ac.at (Letzter Aufruf: 26. 1. 2024)
  14. Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Hot_Dogs (Letzter Aufruf: 22. 1. 2024)
  15. www.heimat-bayern.de/%C3%BCber-uns.html (Letzter Aufruf: 22. 1. 2024)

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