Wenn Musik auswandert

Auf den Spuren des Urner Walzers

3. Juli 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

So wie sich Musikanten auf Wanderschaft machen, tun es auch Kompositionen. Manche verwischen ihre Spuren, indem sie ­unterwegs ihren Namen ändern. So zum Beispiel ein Walzer des Schweizer Komponisten Kasi Geisser, der in Österreich und Bayern unter dem Titel Urner Walzer oder Urner Landler gespielt wird.
Text: Elisa Hipp

Es ist März 2019. Auf meinem Handy läuft der Radio-​Live-​Stream von BR-​Heimat. Ich stöpsle mir die Kopfhörer in die Ohren und werfe einen Blick aufs Display. Was läuft gerade? Mein Blick bleibt hängen. Urner Walzer, gespielt von der Herbstblattl Musi, steht da. Es gibt einen Urner Walzer? Sofort ist mein Interesse geweckt. Ich bin Allgäuerin, groß geworden in einer musikalischen Familie. Nun lebe ich in der Schweiz im Kanton Uri, dessen Bewohner – außerhalb der Schweiz nur wenig bekannt – Urnerinnen respektive Urner genannt werden.

Kasimir »Kasi« Geisser (1899–1943) lebte mehrere Jahre im Kanton Uri (re.).

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Ist der Urner Walzer hier bekannt? Anruf bei Markus Brülisauer, Geschäftsführer des Hauses der Volksmusik in Altdorf, dem Urner Hauptort. »Ja, den kenne ich schon«, sagt er. »Das Stück heißt hier aber anders: ›Xandi, ist das alles?‹ und ›Schweizergruss‹. Ich mache mich mal auf die Suche.« Innerhalb weniger Minuten flattern mehrere Mails in den Posteingang. Darin vier Audios. Vier Namen – Urner Walzer, Urner Landler, Xandi, ist das alles? und Schweizergruss –, aber viermal dieselbe Melodie!

Recherche in Deutschland und Österreich

Gemeinsam starteten Markus Brülisauer und ich eine Spurensuche, die uns bis nach Deutschland und Österreich führen sollte. »Es ist nicht ganz klar, wer die Melodie komponiert hat«, sagte Markus Brülisauer und zeigte mir auf seinem Tablet ein paar digitalisierte Noten. Kasi Geisser, dem berühmten Schweizer Volksmusiker und Komponisten hunderter Stücke, wird die Komposition zugeschrieben. Manchmal taucht auch Walter Wild, ein Akkordeonist und Komponist und Zürcher Verleger-​Zar, als Komponist auf. Als Geissers erster Verleger dürfte er es wohl gewesen sein, der dem Stück den zugkräftigeren Titel Schweizergruss verpasste und es als ein von ihm selbst geschriebenes Stück den Tanzkapellen und Mundharmonika-​Vereinen verkaufte. Alles geklärt also? Kasi Geisser war der Komponist und Walter Wild der Verleger, der das Stück geklaut hat? So einfach sei das nicht, erklärte mir Markus Brülisauer

Im Jahr 1975 tauchte die Melodie erstmals als Urner Walzer in den Archiven auf und zwar in einem Notenheft mit Stücken aus dem Repertoire der Uttendorfer ­Eisschützenmusi in Österreich.

»Das war eine andere Zeit. Damals dachte man anders über das Urheberrecht als heute.« Ein Stück gehörte dem, der es gerade in seinem Repertoire hatte. Namensänderungen waren gang und gäbe, für die Komponisten interessierte sich in diesem Zusammenhang niemand. Das änderte sich erst mit der Aufnahme von Schallplatten. Auch zu Marketingzwecken wurden Titel oft geändert. Aus Im Zeppelin zum Beispiel wurde Zürcher Strandbadleben.
Weitere Recherchen führten wie erwähnt nach Österreich, wo 1975 der Urner Walzer erstmals im Archiv des Österreichischen Volksliedwerks und der Universitäts- und Landesbibliothek Innsbruck auftauchte, dies im Heft Musikantn spielts auf. Pinzgauer Tanzl von der Uttendorfer Eisschützenmusi von Harald Dengg. Irgendwann zuvor hatte die Melodie also die Grenzen der Schweiz überquert und war nach Österreich ausgewandert – und hatte unterwegs erneut den Namen gewechselt. Was zuerst Xandi, ist das alles? und dann Schweizergruss geheißen hatte, hieß nun Urner Walzer. Wie diese Reise vor sich gegangen ist, ist schwierig zu sagen, über Musiker direkt oder über Schallplatten und Radio?
Im Vorwort seines Notenhefts bezeichnet Harald Dengg den Urner Walzer jedenfalls als »Pinzgauer Tanzweise«, ein Urheber fehlt. Die Stücke, die Harald Dengg zusammengestellt hat, entstammen dem Repertoire der Uttendorfer Eisschützenmusi, die Heinz Egger gegründet hatte; als Sammler alter Pinzgauer Tanzweisen nutzte er zum Beispiel die Notenbüchl des Kapellmeisters Alois Schernthaner (1874–1947) aus Uttendorf. Kam der Urner Walzer vielleicht via Alois Schernthaner nach Österreich? Einige Hinweise sprechen dafür. So spielte Alois Schernthaner in einer Besetzung, in der Kasi Geisser zum Beispiel mit dem Ländlerquartett Uri auftrat. Außerdem war auch er, wie Kasi Geisser, ein hervorragender Klarinettist – eventuell ja immer auf der Suche nach neuen Stücken. Ob er Verbindungen in die Schweiz hatte, weiß man allerdings nicht.
Eine andere Variante ist die Verbreitung via Walter Wild, der weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannt war. Er könnte Verbindungen zur Uttendorfer Eisschützenmusi gehabt haben, wie sie auch zwischen Heinz Egger und der Schweiz sowie zwischen Alois Schernthaner und der Schweiz bestanden haben könnten. Jedenfalls kann die Reiserichtung des Stücks mit großer Wahrscheinlichkeit von der Schweiz nach Österreich (und nicht andersherum) angenommen werden. Dies bestätigte auch die typische Stilistik, wie der Salzburger Volksmusikant Toni Gmachl Markus Brülisauer mitteilte. Er hatte den Urner Walzer für die Rotofenmusi arrangiert und danach Urner Landler genannt.

Xandi ist das alles? alias Urner Walzer alias Urner Landler

Oft gespielt, gern gehört

Der Urner Walzer verbreitete sich rasch im Salzburger Land und im angrenzenden Bayern. Er entwickelte sich zu einem beliebten Musikstück, findet sich von 1999 bis 2017 auf sechs CDs wieder, gespielt von der Höllbergmusi, der Rotofenmusi, der Hallgrafen Musi, der Biergriagl Musi, der Sunnseiten Tanzlmusi und der Herbstblattl-​Musi. Egal unter welchem Namen – die ersten Takte des ersten Teils werden immer ein bisschen anders gespielt, stellte Dr. Wolfgang Dreier-​Andres, Archivleitung des Salzburger Volksliedwerks, auf Anfrage fest. Der zweite Teil und das Trio dagegen sind immer gleich. »Das ist bei den meisten Volksmusikstücken salzburgischer Überlieferung nicht so«, erklärte er. »Da hat der zweite Teil meist gar kein richtiges Motiv und dient eher als Übergang oder Füller. Derselbe zweite Teil findet sich oft in verschiedenen Stücken.« Auch das könnte ein Hinweis sein, dass das Stück schweizerisch ist, sagte er.

Trotz der vielen Hinweise kam ich mit meinen Recherchen nicht ans Ziel, bis ich beim Mittagessen in der Schützenmatt in Altdorf zufällig Markus Brülisauer wieder traf. »Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wie der Urner Walzer zu seinem Namen gekommen ist«, sagte ich. »Frag doch mal die Urner Musi.« Ich schaute ihn groß an. »Wen?« – »Eine junge bayerische Volksmusikgruppe. Ich habe sie eben erst entdeckt.« Eine Viertelstunde später hatte ich Johannes Servi, Akkordeonist bei der Urner Musi, am Telefon.

Die Urner Musi mit Johannes Servi, Simon Filser, Leonhard Servi und Bernhard Filser (von links) haben ihren Namen dem Stück Urner Landler entlehnt.

Namensgeber der Urner Musi

Im Jahr 2012 meldeten sich die Brüder Johannes und Leonhard Servi mit Gitarrist Bernhard Filser beim Alpenländischen Volksmusikwettbewerb in Innsbruck an. Wochen zuvor hatten sich die drei jungen Musiker spontan zusammengetan, um an einer Geburtstagsfeier aufzuspielen. Die zusammengebastelte Gruppe funktionierte gut. Einen Namen hatte sie aber noch nicht. Doch der wurde für den Wettbewerb verlangt. »Wir haben den Urner Landler so gerne gespielt. Da haben wir uns einfach kurzerhand Urner Musi genannt«, erzählte mir Johannes Servi. Der Name blieb; bei einem Auftritt fragte ein Zuhörer: »Kommt ihr aus der Schweiz?« »Wir haben ihn angeschaut und gefragt: Warum?«, erinnerte sich Johannes Servi. Im Internet fanden sie dann den Kanton Uri. Am 17. August 2019 schloss sich dann der Kreis und der Urner Walzer fand gleichsam wieder nach Hause zurück, als die Urner Musi am Festival Alpentöne im Urner Hauptort Altdorf auftraten. Dass sie das Stück spielten, verstand sich von selbst.

Dieser Beitrag basiert auf dem gleichnamigen Artikel von Elisa Hipp im Urner Wochenblatt vom 26. Juni 2019.

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