Ein Essay von: Wulf Wager Fotos: Adobe Stock, Wulf Wager, Hardy Gertz, Haus der Fasnacht Imst
Die Idee, dass Landesgrenzen Kulturgrenzen sind, wird durch die Geschichte und die lebendige Realität der Volkskultur in den Regionen Baden, Württemberg, Schwaben, Bayern sowie den Alpenregionen Österreichs, Südtirols und der Schweiz und natürlich auch anderswo widerlegt. Die Musik, Tänze und andere Traditionen zeigen, dass kulturelle Praktiken über geografische Grenzen hinweg fließen und sich gegenseitig bereichern. Dies geschieht nicht nur innerhalb dieser Regionen, sondern auch in der kulturellen Interaktion mit zeitweise dominierenden Kulturen, wie beispielsweise der italienischen, was die Vielfalt und Dynamik dieser Kulturen in Hochkultur und Volkskultur weiter verstärkt. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass Landesgrenzen auch Kulturtransfer verhindern. Im Gegenteil, oft dienen sie zwar als Rahmen für kulturelle Identität, während die Kulturbestandteile selbst unabhängig von diesen Grenzen permanent fließen. Grenzen können sogar den Reiz und die Neugier auf fremde Traditionen erhöhen.
Kulturelle Verflechtungen und Traditionen
Die Volkskultur ist ein faszinierendes Mosaik aus Traditionen, die über Jahrhunderte hinweg durch verschiedene soziale Gruppen und durch Migration, Handel und Austausch entstanden sind. In der Alpenregion finden wir beispielsweise eine Vielzahl von musikalischen Stilen, die sowohl durch einheimische Traditionen als auch durch Einflüsse anderer Regionen geprägt sind. Die Verbreitung von Instrumenten wie der Zither oder der Steirischen Harmonika sind Beispiele für diese Vermischung. Gerade die Volksmusik ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Überwindung von Landesgrenzen. Der Klang der Zither, Schwegelpfeife oder des Dudelsacks, der Sackpfeife, die auf der Schwäbischen Alb ebenso zu finden sind wie im Böhmerwald, im Allgäu oder im Tiroler Land, erzählt von einer gemeinsamen Geschichte – und von kultureller Aneignung. Stilistiken sind, wie auch immer übermittelt, über Grenzen gesprungen. Steirische Ländler findet man auch in Schwäbischen Tanzmusiknotenhandschriften. Ursprünglich aus Kärnten stammende Dreikönigslieder werden auch im Schwarzwälder Kinzigtal gesungen. Niemand weiß, wie das vermittelt wurde. Aber daran sieht man, dass Landesgrenzen keine Kulturgrenzen sind und sich die Formen der Kultur nicht um Landesgrenzen scheren. Was gefällt wird übernommen, daran kann auch kein Landesherr etwas ändern.
Kulturelle Aneignung oder Kulturtransfer?
In der letzten Zeit ist immer wieder von kultureller Aneignung die Rede. Gemeint ist damit die Übernahme von Ausdrucksformen oder Artefakten, Geschichte und Wissensformen von Trägern einer anderen Kultur oder kulturellen Identität. »Kulturelle Aneignung«, so wird von vielen sich selbst als fortschrittlich verstehenden Zeitgenossen an Unis, in Redaktionen oder der Politik die »durch und durch verwerfliche« Übernahme von fremdem Kulturgut bezeichnet. Also wenn sich etwa weiße Frauen eine Rasta-Frisur machen lassen; britische Köche italienische Pasta-Rezepte neu interpretieren; oder Österreicherinnen Yoga betreiben, wie sie es gerade für richtig erachten oder wenn Mittenwalder Musiker auf dem Digeridoo spielen.
Im Juli 2022 wurde in einer alternativ verwalteten Brasserie in Bern ein Konzert abgebrochen, weil Teile des Publikums beim Anblick der Band »Unwohlsein fühlten«, so der Veranstalter. Der Grund: Der Schweizer Musiker Lauwarm spielte mit seiner Band Reggae-Musik, und zwei der fünf Musiker trugen ihre Haare in filzigen Strähnen, nach dem Vorbild der von Reggae-Künstlern popularisierten Dreadlocks. Beim Reggae – so die Kritik – handle es sich um die Musik indigener Jamaikaner, und wenn weiße Menschen sich bei diesem Stil und bei den dazugehörigen Frisuren bedienten, sei dies ein Fall von »kultureller Aneignung«. Das heiß: Angehörige einer herrschenden Kultur machen sich illegitimerweise schöpferische Errungenschaften von unterdrückten, ehemals versklavten oder marginalisierten Kulturen zu eigen.
In Wahrheit ist Reggae aber eben nicht die schlichte Musik einer indigenen Kultur, sondern ein komplexer Stil, der sich aus der Verschränkung afrikanischer, europäischer, nordamerikanischer und karibischer Einflüsse ergeben hat – und der in den verschiedensten Arten der kulturellen Aneignung bis heute weiterwirkt.
»Man kann keine scharfen Grenzen zwischen Kulturen ziehen.«
Bereicherung der eigenen Kultur
Kulturen beeinflussen sich gegenseitig. Schon immer. Kulturelle Aneignung ist eine Bereicherung der eigenen Kultur. Kultur lebt vom Austausch über die Landesgrenzen hinweg. Eine Übernahme kultureller Eigenheiten kann sogar ausdrücklich ein Zeichen der Wertschätzung oder des Respekts sein. Für die Ethnologin Susanne Schröter ist »die gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte kultureller Aneignungen, ohne die es keine Entwicklung gegeben hätte«. Kulturelle Aneignung beinhaltet deshalb immer eine »gewisse Wertschätzung« und sei in einer durch die sich beschleunigende Globalisierung immer vielfältiger werdenden Welt »wohl die wichtigste Kulturtechnik, die ein friedliches Zusammenwachsen möglich macht«1. Und diese kulturelle Aneignung oder Kulturtransfer kennt keine Grenzen.
Die Kritik an kultureller Aneignung treibt zeitweise wunderbare Blüten. Die Bundesgartenschau in Mannheim äußerte im April 2023 Bedenken bezüglich eines geplanten Auftritts des Seniorinnen-Balletts der AWO, da diese unter dem Motto einer Weltreise in verschiedenen Kostümen auftreten wollten, welche als klischeehafte Repräsentation der jeweiligen Kulturen aufgefasst werden könne. Ist denn dann das Tragen von Dirndl und Lederhosen bei Volksfesten jenseits des Weißwurstäquators unzulässige kulturelle Aneignung oder Übernahme eines kollektiven Feiertrends?
»Kulturen beeinflussen sich gegenseitig. Schon immer.«
Es gibt keine kulturelle Reinheit
Der Schweizer Jodelstil und die Örgelimusik haben sich in Jahrzehnten im Allgäu verbreitet, die Steirische Harmonika in ganz Süddeutschland, ja bis nach Holland, wo es eine große Fangemeinde gibt. Bayerische Schuhplattler kann man auch in den USA erleben, und das Digeridoo oder schwedische Geigenmusik in Wien. Wieder die Frage: Ist das dann kulturelle Aneignung oder die gegenseitige kulturelle Befruchtung? Die aktuelle Diskussion zur kulturellen Aneignung bedient sich eines Kulturbegriffs, der auf der Fiktion kultureller Reinheit beruht und der Herkunft und Abstammung als Begründung dafür in Stellung bringt, wer über welche Ausdrucksformen von Kultur verfügen darf.2 Es gibt aber keine kulturelle Reinheit. Das zu fordern wäre völkisch. Und völkisch ist ein rassistischer Volksbegriff. Und hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn das wäre die Konsequenz für das woke Fordern des Verzichts auf kulturelle Aneignung. Nochmal: Es gibt keine kulturelle Reinheit. Kultur lebt vom Austausch! Kulturelle Aneignung ist keine Enteignung, kein Diebstahl, sondern eine respektvolle Ergänzung der eigenen Kultur. Wie anders hätte der Wiener Walzer seine Siegestour über ganz Europa machen, oder das Lied Stille Nacht zum meistgesungenen Weihnachtslied der Welt werden können?
Melodien wandern mit Handwerkern
Ein wichtiger Aspekt des Kulturtransfers war der Einfluss wandernder Handwerker, Musikanten und fahrender Händler, die als kulturelle Botschafter fungierten. In Zeiten, in denen Reisen und Kommunikation anders als heute stark eingeschränkt waren, stellten diese Personengruppen die Verbreitung von kulturellen Praktiken sicher. Sie brachten neue Melodien, Tänze und Brauchformen mit, die sich dann in den lokalen Traditionen verwoben.
Auch die Migration brachte Kulturaustausch. Wenn Menschen in andere Länder immigrieren, stehen sie vor der Entscheidung, ob und wie stark sie sich die neue Kultur aneignen oder gar Teile der eigenen Kultur am neuen Ort mit einbringen. In den Worten von Detlef Garz: »Es geht um die (bez. den Versuch der) ›Überwindung‹ von Fremdheit.« Im 18. Jahrhundert brachte es ein italienischer Zuwanderer gar zum Zunftmeister der ehrwürdigen Rottweiler Narrenzunft, ein hoch angesehenes reichsstädtisches Amt. Das Phänomen von sich integrieren und sich die fremde Kultur zu eigen machen steht im Kontrast zur Abgrenzung von dieser neuen Kultur.
Fastnacht als Beispiel für europaweiten Kulturtransfer
Historisch gesehen haben viele kulturelle Strömungen, wie beispielsweise die aus Italien kommende Renaissance, nicht an nationalen Grenzen Halt gemacht. Durch kulturelle Transfers entstehen unablässig neue Zusammenhänge, die sich in bestimmten Fällen weiträumig miteinander verbinden. Als ein Beispiel sind hier die Fastnachtstraditionen zu benennen, die sich von Italien mit der Commedia dell’arte kommend in den alpinen Gebieten und in ganz Süd- und Südwestdeutschland und darüber hinaus in ganz Europa etablierten und dort eine eigene Dynamik und Ausprägung erhielten. Gerade die italienische Kultur hat einen nachhaltigen Einfluss auf ganz Europa. Musik, Tanz, bildende Kunst, kulinarische Traditionen, und eine Vielzahl von Festen sind Beispiele für diesen Austausch. Die Traditionen des italienischen Karnevals, insbesondere die Masken und die Farben, haben in vielen europäischen Festen ihre Entsprechung gefunden und umgekehrt.
Exemplarisch kann man das an der Glattlarve, einer Fastnachtsmaske, die den schönen Schein vor dem Gesicht des Narren, des Gottesleugners, darstellt, ist mit Sicherheit aus Italien in die fastnächtlichen Traditionen Tirols, Bayerns und Südwestdeutschlands eingewandert. In Sardinien werden noch heute beim sogenannten Sartiglia, einem fastnächtlichen Reiterspiel solche Larven getragen, wie sie schon Michelangelo gezeichnet hat, oder wie sie im Palazzo Vertemate Franchi aus 1550 in der Lombardei zu sehen ist. Diese Glattlarven sind heute dominierend in der schwäbisch-alemannische Fasnet zum Beispiel in Villingen oder Wolfach, aber auch beim Imster Schemenlaufen in Tirol gehören sie zur Figur des Rollers dazu. Über 500 Jahre Kontinuität im Kulturtransfer und zugleich verbindendes Element über die Landesgrenzen hinweg.
Traditionelle Lieder, die von der Natur, der Arbeit und der Liebe handeln, werden oft hier wie da in ähnlicher Weise interpretiert und gesungen. Es hat sich halt eröffnet das himmlische Tor ist sowohl in Südtirol, als auch in Oberschwaben überliefert. Hier kennt man sogar die Kulturtransporteure: es waren die Schwabenkinder, die aus dem Vinschgau kommend sich bei oberschwäbischen Bauern als Hütekinder verdingen mussten. Nicht nur Lieder haben sie mitgebracht oder mitgenommen, auch Tracht und Kleidung. Denn der Lohn für ihre Arbeit war immer dopplets Häs, also Werktags- und Festtagskleidung. So zeigen sich bis heute Parallelen in den Trachten Tirols und Oberschwabens. Die Beispiele für Kulturtransfer sind schier unendlich.
Aber auch in kleineren regionalen Raumschaften gab es immer schon einen kulturellen Austausch. So strahlte die typische Ausprägung der Villinger Fasnet bzw. deren Schemenschnitzkunst auch in andere Orte in Südwestdeutschland aus. Die Radolfzeller Narrenmutter trug im 19. Jahrhundert eine Villinger Narroscheme, ebenso Elzacher Narren oder Narros in Oberndorf am Neckar. Was hier im Großen geschah, passierte natürlich auch in kleineren territorialen Räumen.
Kultur lebt vom Austausch
Das absolute Verbot kultureller Aneignung wäre der Tod der Kultur, die mit Selbstüberschreitung zu tun hat. Das gilt selbst für die Küche. Kürzlich wurde der Starkoch Jamie Oliver kritisiert, weil sein Jerk-Rice vom Original aus Jamaica abweicht. Kochen ist doch das Paradebeispiel für einen Schmelztiegel! Vielleicht wird demnächst auch die Rösti wegen kultureller Aneignung gecancelt. Schließlich stammt die Kartoffel aus Südamerika.3 Man kann keine scharfen Grenzen zwischen Kulturen ziehen. Gerade im Landesgrenzbereich herrscht reger Austausch. Man denke nur an das kärtnerische Gailtal und seine kulturelle Nähe zu Slowenien oder an den Bayerischen Wald und den Böhmerwald.
siehe Notenblatt ⤴
Kulturtransfer heute: Die Rolle von Medien und Technologie
In der heutigen Zeit findet Kulturtransfer vor allem über moderne Kommunikationsmittel statt. Social Media, Streaming-Plattformen und Fernsehen ermöglichen einen sofortigen Zugang zu kulturellen Inhalten aus verschiedenen Ländern und Regionen. Die Verbreitung von Musik, Tanz und Bräuchen über das Internet fördert den interkulturellen Austausch und stärkt das Bewusstsein für die Vielfalt der Volkskultur.
Plattformen wie YouTube und TikTok sind nicht nur Orte des Konsums, sondern auch der kreativen Aneignung, wo Nutzer aus verschiedenen Regionen eigene Interpretationen traditioneller Tänze oder Musikstile kreieren und teilen können. Dies führt zu einer globalen Vernetzung der Volkskulturen und zeigt, dass die Traditionen von heute in einem dynamischen Austausch stehen, der weit über geografische und nationale Grenzen hinausgeht.
Aufmacher:
Anmerkungen:
- ↑ Lisa Schmidt-Herzog: Jetzt soll auch das Kostümieren zu Karneval rassistisch sein?auf www.welt.de, 24. Februar 2017.
- ↑ Markus Tauschek, Gegen die Essenzialisierung – Kulturelle Aneignung als Problem, in: Zeitschrift für Empirische Kulturwissenschaft, 120. Jahrgang 2024, S. 90–107.
- ↑ David Signer, Der Vorwurf der »kulturellem Aneignung« ist gefährlich – er fördert rassistisches Denken durch die Hintertür, in: Neue Züricher Zeitung, 4.8.2022.
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