Man könnte jetzt sagen: Not macht erfinderisch. Das würde dem musikalischen Schaffen des gebürtigen Trostbergers natürlich bei weitem nicht gerecht, schließlich schaut Matthias Pürner schon seit Jahren fleißig über den musikalischen Tellerrand und versucht sich an unterschiedlichsten Genres und Stilen. Dennoch hat die Pandemie – und die damit verbundene Zeit – ihn auf eine ganz spezielle Idee gebracht: Fünf neue Stücke hat er komponiert und eingespielt, nur mit Harmonika und, jetzt kommt’s: einer Loop-Station. Eine geniale, aber auch sehr komplexe Idee.
Text: Eva Ludwig Fotos: Leo Fellinger, Irmgard Sinnesbichler, Andreas Zitt, privat
Auf der Ziach«, so erzählt Pürner, »war ich eigentlich ein Spätzünder. Ich habe erst mit 15 angefangen zu spielen, in der Volksmusikszene ist man da ja schon im fortgeschrittenen Alter.« Musikalische Vorbildung gab es dennoch reichlich: Schon seit dem Kindergarten lernte der in Altenmarkt aufgewachsene Musiker Blockflöte, auch im volksmusikalischen Kontext. Im Ensemble war er schon damals bei allen wichtigen Veranstaltungen – und schnell fiel ihm etwas auf: »Die coolen Leute haben alle Ziach gespielt, und als Jugendlicher will man natürlich vor allem eins sein: cool.« Pürner lacht. Weil natürlich aus unserer heutigen Perspektive völlig klar ist, dass seine Liebe zur Diatonischen weit über den Coolnessfaktor hinausgeht.
Mit seinem damaligen Lehrer, dem Sohn seiner Flötenlehrerin, formierte Pürner ein erstes Duo und war danach jahrelang bei allen einschlägigen Wettbewerben unterwegs: Innsbruck, dem Traunsteiner Lindl, dem Harmonikawettbewerb in Flachau. Schnell war klar, dass die Verwurzelung in der Volksmusik das eine war, die Neugierde auf musikalische Experimente das andere. Schon zu Schulzeiten bewegte sich Pürner auch im Popmusikkontext. 2009 entstand aus Mitgliedern von Schulbigband und Chor die LischKapelle, ein Singer-Songwriter-Projekt mit großer Bandbesetzung, in der Pürner zunächst Klavier spielte. Bei dem ein oder anderen Song probierte er aus, wie die Harmonika dazu klang, wie sich die Popmusikharmonien auf der Diatonischen umsetzen ließen. Und nach und nach rutschte die Ziach in die Bandbesetzung mit rein.
Neue Türen, neue Wege
»Die Volksmusikwelt im Chiemgau ist doch sehr ›gesettled‹, auch vom Veranstaltungsrahmen her«, sinniert Pürner über diese Zeit. »Was wir gemacht haben, war immer konzertante Volksmusik, zum Beispiel auf Hoagarten. Du spielst ein Stück, dann hörst du wieder zu, wartest auf den nächsten Einsatz … Am Ende hast du an einem Abend vier Stücke gespielt. Das ist an sich eine schöne Veranstaltung, dennoch habe ich mit der LischKapelle gemerkt, dass ich das Bedürfnis hatte, auf eine andere Art und Weise zu musizieren, mehr mit dem Publikum in Kontakt zu treten.« Dazu kam, dass auch im Rahmen der Volksmusik zu dieser Zeit neue Türen aufgingen. »Ich war viel auf den ersten Musikantenstammtischen im Münchner Hofbräuhaus. Das war auch eine ganz andere Art, Musik zu machen. Einfach zusammenspielen, im Wirtshaus – eine Jamsession im Volksmusikkontext. Das fand ich faszinierend. Gleichzeitig war ich damals zum ersten Mal bei den Seminaren vom Landesverein [Bayerischer Landesverein für Heimatpflege, Anm. d. Red.], bei denen auch anders miteinander musiziert wurde, als ich das bislang kannte. Dort habe ich gelernt, nicht nur das zu spielen, was ich vorher einstudiert habe, sondern fix zu werden mit den Akkorden, sodass ich gut mitbegleiten kann. Ich wollte eine gewisse Freiheit und Flexibilität am Instrument haben, um da mitmachen zu können.«
»Das erfordert viel Übe- und auch viel Nachdenkarbeit.«
Die Suche nach Emotion in der Musik
Das neu erworbene Können nahm Pürner mit in seine anderen musikalischen Projekte. Was nicht immer ganz einfach umzusetzen war. »Mit der LischKapelle war es erst eine Suche. Wo finde ich die richtigen Akkorde, wie komme ich mit dieser anderen Songstruktur zurecht? Ein Popsong besteht normalerweise nicht aus erstem Teil, zweitem Teil und Trio, hat eine ganz andere Melodiestruktur als ein Volksmusikstück. Da war wahnsinnig viel Arbeit gefragt. Wie kann ich das Instrument artikulieren, dass es mehr in Richtung Groove geht? Ich musste wirklich lernen, die Harmonika ganz anders in die Hand zu nehmen.« Ein Ansatz, der plötzlich neue Welten eröffnete: »Über die Volksmusik habe ich mir die Popmusik erschlossen, bin dann bald bei Musikern wie Herbert Pixner gelandet, die auch versuchen, die Harmonika vielseitiger zu interpretieren.«
Es sei ihm, so Pürner, um das Gefühl, um die Suche nach einer anderen Emotion in der Musik gegangen – und darum gehe es ihm noch heute. »Volksmusik ist meist tänzerisch, oft lustig, unterhaltend. Ganz, ganz selten intim, zerbrechlich oder nachdenklich, das dann meistens im geistlichen Bereich, mit dem ich musikalisch weniger zu tun habe. Das ist in der Popmusik anders.« Die Motivation war also, etwas wegzukommen von der Volkmusik, etwas anderes zu können, auch auf seinem Instrument, der Harmonika.
»Mich hat es eigentlich nie interessiert, Volksmusik in den populären Kontext zu drücken, etwas aufzupeppen oder zu modernisieren. Ich möchte einfach nur die Musik machen, die mir einfällt, ohne etwas anderes damit bewerten zu wollen. Wenn ich irgendeine Musik als neue Volksmusik bezeichne, dann steckt da ja immer drin, dass die andere ›alt‹ ist. Das ist ein Gedanke, der mir fernliegt.« Dennoch sind viele Gruppen, die derzeit in genau diesem Crossover-Bereich agieren, auch Inspiration für Pürner. Der schon genannte Herbert Pixner, aber auch Bands wie Folkshilfe oder La Brass Banda haben einen Einfluss darauf, wie Musik, die auf traditionellen Instrumenten gespielt wird, klingen kann.
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Mit der Boazn ins Fernsehen
Die LischKapelle war bis 2018 musikalisch aktiv, sogar recht umtriebig. Zwei Alben entstanden, unzählige Konzerte wurden gespielt. Doch nach neun Jahren kam das vorläufige Ende – die Mitglieder verstreuten sich auf unterschiedliche Wohnorte, stiegen ins Berufsleben ein; es fehlte die Zeit, um das Bandprojekt voranzutreiben. »2018 habe ich zusätzlich mein Studium an der Münchner Hochschule für Musik und Theater begonnen, und mir war klar: Ich will lieber einen Gang nach vorne schalten als zurück. Mein Ziachstudium sollte nicht drunter leiden, dass sich die Projekte gegenseitig blockieren, die Band ebenso wenig. Ich habe mich fürs Studium entschieden – mit dem Gedanken: Wenn, dann mach ich’s ordentlich.«
Um 2016 entstand die Großstadt Boazn, ein quirliges Crossover-Projekt mit Harmonika, Baritonsax und Gitarre, das zuerst durch die Münchner Wirtshäuser tingelte, dann schließlich bei Traudi Siferlingers Wirtshausmusikanten im Bayerischen Fernsehen landete und spätestens seit den Brettl-Spitzen seinen festen Platz in der bayerischen Kleinkunst- und Kabarettszene hat. Auch hier gab es neue Herausforderungen: »Die Großstadt Boazn war wieder ein sehr volksmusikalisches Projekt – aber dadurch, dass wir alle drei vorne standen, auch viel gesungen haben, musste das musikalische Konzept sehr durchdacht sein. Auch singen und spielen gleichzeitig war zuerst eine Challenge für mich.«
Besonders bei der Boazn ist nicht nur das chansonneske, gepaart mit dem Wirtshausmusik-Faktor – sondern auch die Besetzung. Es gibt natürlich die Ziach, es gibt eine Gitarre, es gibt aber auch ein Baritonsaxofon, meisterhaft bedient von Birgit Tomys. Dem Boazn-Bass wird damit eine ganz eigene Klangfarbe verliehen, ist doch das Sax nicht das erste Instrument der Wahl in eigentlich volksmusikalischen Besetzungen. An diesem besonderen Schmäh haben nicht nur die Zuhörer, sondern natürlich auch das Ensemble großen Spaß. Gemeinsam holt man raus, was an Innovation möglich ist, der Klang bleibt trotzdem stimmig und schmissig.
»Gemeinsam holt man raus, was an Innovation möglich ist.«
Zeit für was Neues
Mit der Coronapandemie kam für Matthias Pürner, wie für die meisten anderen Kulturschaffenden, eine Zwangspause. Und damit viel Zeit, um darüber nachzudenken: Wie soll es musikalisch weitergehen? »Spielt man in einer Gruppe, wird man immer geformt – von seiner Position auf der Bühne, von den Mitmusikern, vom Repertoire. Ein bisschen hat mir in den vergangenen Jahren das Feeling und auch der Sound der LischKapelle gefehlt, die popmusikalischen Arrangements. Deswegen musste ein neues Projekt her, um diese bestimmte Klangvorstellung umzusetzen – zu erkunden, wie man das mit der Ziach machen kann.«
So wagte sich Pürner also an die Umsetzung einer Idee, die ihn schon seit einiger Zeit begleitete: Harmonikamusik, zeitgenössisch, selbst komponiert, eingespielt mit einer Loop-Maschine. Das bedeutet: Verschiedene Tonspuren werden einzeln aufgenommen und übereinandergelegt, sodass am Ende ein harmonisch rundes Musikstück entsteht. Rund eineinhalb Jahre hat es dann gedauert, bis die ersten fünf Nummern so weit waren, dass man ins Studio gehen konnte.
»Ich habe alle Spuren selbst eingespielt und dann overdubbed. [Beim Overdub wird zu einer bestehenden Aufnahme eine weitere hinzugemischt, Anm. d. Red.] Die Hauptarbeit war aber, die Loop-Station zu verstehen: Wie tickt das Ding? Wann nimmt es auf, wann spielt es ab, wann stoppe ich eine Spur? Wie kann ich eine ansprechende Dramaturgie in einem Stück erzeugen? Da war wirklich Fingerspitzengefühl bei den Arrangements gefragt, damit es auch nicht langweilig wird. Wie schnell hintereinander spiele ich die einzelnen Schichten eines Stückes ein, damit keine unnötige Länge entsteht? Ich kann in einer Loop-Session nicht ewig ausprobieren, wie lange ich ein einzelnes Motiv spiele, bis ich die nächste Passage darüberlege. Das erfordert viel Übe- und auch viel Nachdenkarbeit.«
Ausgefuchste Tüftelei
Oft, so erzählt Pürner, sei er auch dagesessen und habe sich genaue Notizen über die einzelnen Signalwege gemacht, ausgelotet, ob es funktioniert, die Melodieseite aufzunehmen und dabei den Bass abzuspielen oder beide Seiten auf verschiedenen Kanälen gleichzeitig in der Loop-Station zu rooten. »Man läuft natürlich immer Gefahr, dass man einen gleichförmigen Aufbau hat beim Loop: Du baust ein Stück erst auf, dann ab, im schlimmsten Fall hast du in jedem Stück den gleichen Spannungsbogen. Deswegen habe ich mir überlegt: Wie kann ich in der Mitte zum Beispiel auch einmal etwas wieder herausnehmen, das Stück ›zurückbauen‹, und damit eine neue Klangfarbe hereinbringen? Da habe ich sehr viel herumexperimentiert, Probeaufnahmen gemacht, die wieder eine Woche lang liegen gelassen, verlängert, verkürzt, verändert – das war deutlich mehr Aufwand, als das Material für die Songs zu komponieren.«
Ein großer Teil dieses Prozesses, so Pürner, funktioniere nach dem Prinzip trial and error: Irgendwo beginnt man, von da aus wird weiterentwickelt. »Meistens fängst du mit einer Harmoniefolge an oder mit einem Groove. Ich habe einmal verschiedene Rockscheiben gehört und mir gedacht: Geiles Riff, geiler Groove, geile Harmoniefolge – wie kann ich das auf der Ziach machen? Es ist immer ein Experimentieren. Du spielst irgendeine Harmoniefolge, einen Rhythmus, eine Basslinie, und dann ergibt sich oft von selbst ein cooler Klang. Dann kommt eine zweite Melodie darüber, die Töne verhaken sich – manchmal weißt du nicht: Wird es Dur, Moll, ein reiner Akkord oder eine Erweiterung? Oft hat man am Anfang nur eine Atmosphäre, ein gewisses Grundgefühl. Das eine kann melancholisch sein, das nächste eher fröhlich, zum einen passt vielleicht eine bluesige Improvisation. Solche Dinge entwickeln sich zunächst sehr spontan, es dauert aber wirklich lange, bis das Arrangement so sitzt, dass ein gutes Stück daraus wird.«
Aus dieser intensiven Tüftelei entstanden ist die EP Gleich_Toene – ein Wortspiel, das sich zum einen auf den Gleichton der Harmonika, zum anderen auf die wiederkehrende Gleichförmigkeit eines einzelnen Loops bezieht. Enorm vielseitig sind hingegen die fünf Stücke auf der EP: Pürner schafft mit jedem Titel eine komplexe, faszinierende Klangwelt, die beim Zuhören sofort in den Bann zieht. Man erkennt die feinsinnige Komposition der einzelnen Tracks, gleichzeitig gehen die Melodien unheimlich schnell ins Ohr. Gleich_Toene ist die perfekte Mischung aus filigraner Detailverliebtheit und angenehmer Unangestrengtheit; die intensive Arbeit, das Tüfteln und Ausprobieren – all das hat sich definitiv gelohnt. »Mein Anspruch ist auch, dass das alles live spielbar ist. Das ist der mühsame Teil, der intensives Üben erfordert. Auf der Bühne muss man den Loop beim ersten Versuch aufnahmereif einspielen. Wenn ein Fehler passiert, dann läuft dieser Fehler drei Minuten weiter. Wenn das Timing nicht stimmt, entsteht kein Groove, schlimmstenfalls werden die Harmonien schief. Bei der Liveumsetzung geht es wirklich ums Handwerk. Ich glaube, ich war selten so gut vorbereitet auf ein Projekt.«
Matthias Pürner
Geboren 1990 in Trostberg im nördlichen Chiemgau, studierte im Bachelorstudiengang Volksmusik mit Hauptfach Steirische Harmonika (Klasse Alexander Maurer) an der Hochschule für Musik und Theater in München. Neben traditioneller alpenländischer Volksmusik liegt sein Fokus auf der Erkundung unterschiedlichster Genres von Klassik über Jazz bis hin zu Popmusik. Mit Effektgeräten und Loops werden die Möglichkeiten des Instruments erweitert, um mit neuen Klängen und Spieltechniken zu experimentieren. Mit seiner Band Großstadt Boazn bespielt er Festivals, Kleinkunstbühnen und Wirtshäuser von Verona bis Berlin. Neben Volksmusikstücken im traditionellen Stil und vielfältigen Kompositionen für die Großstadt Boazn zählen auch Auftragskompositionen für Theater und Fernsehen zu seinen Werken.
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