Text: Ernst Schusser Fotos: Claudia Harlacher, Ernst Schusser, Sammlung Otto Holzapfel, Michael Lukaschik, Herbert Pöhnl
- Nun will ich aber heben an,
Tannhauser zu besingen,
und was er wunders hat getan
im Venusberg darinnen. […] - Drum soll kein Papst, kein Kardinal
den Sünder nicht verdammen!
Der Sünder sei groß wie er will,
Gott schenkt ihm Gnade – Amen!
(16. Jahrhundert, neugestaltet EBES 1991)
Moritatensänger? – Wos is denn des?« – Diese Frage haben wir des Öfteren gehört und erst kürzlich hat eine verdiente ältere Volksmusikantin nach einem Abend über die Musikgeschichte in Berchtesgaden und dazugehörigem gemeinsamen Singen von überlieferten erzählenden Liedern aus der Geschichte von Berchtesgaden gesagt: »Ja, des is ja so sche und lustig mit eichane Moritaten – wenn i des scho früahra gwusst hätt …«
Somit sei am Anfang unseres kleinen Beitrags über die Moritatensänger ein Text zitiert, den ich als Einführung zu der vom Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern im Jahr 2006 herausgegebenen CD Balladen, Moritaten und gesungene Geschichten – Folge 1 verfasst hatte:
»Früher verkauften fahrende Sänger und Händler ihre ›neuesten Lieder‹ in Liedflugblättern auf Märkten und unterwegs in Dörfern und Städten. Bänkelsänger trugen ihre oft schaurigen Ereignislieder, Moritaten und Balladen auf öffentlichen Plätzen vor.
Seit ca. 1990 sind die Moritatensänger des Bezirks Oberbayern unterwegs auf Straßen und Plätzen in Oberbayern. Die Menschen erleben hier natürlichen und ungekünstelten Volksgesang in lebendiger Weise und ganz nah – beim Zuhören und beim Mitsingen. Das ist Volksmusik live zum Anfassen, Mitmachen und Selbermachen.
Die altüberlieferten Balladen wie das Bettlmandl, Graf und Nonne, der Tannhauser, die Bernauerin, der Dudlpfeifer besingen zentrale Lebenssituationen der Menschen. Die Moritaten wie Sabinchen, Mariechen, Lenchen oder die Räuberbraut stammen aus dem Küchen- und Bänkelsängermilieu (ab Mitte 19. Jahrhundert) und sind in Oberbayern auch heute noch verbreitet. Ereignislieder berichten von Wildschützen und bayerischen Helden, wie z. B. dem Wildschützen Jennerwein oder dem Räuber Kneißl. Humorvolle Schwanklieder erzählen von Schneiders Höllenfahrt, Adam und Eva oder einem Löffelschlager.
Die Abbildungen an der Moritatentafel lassen die gesungenen Geschichten in verschiedenen Abschnitten vor den Augen erscheinen. Die Moritatensänger des Bezirks Oberbayern laden mit kleinen Taschenliederheftchen zum Mitsingen ein.
Nun ist es unmöglich, die Stimmung eines geselligen Moritatensingens mit einer Tonaufnahme einzufangen: das Entstehen der Lieder, das gemeinsame Einschwingen, das aufsteigende ›Miteinander-Singen-Gefühl‹, die Geschichten, Sprüche und spontanen Erzählungen rund um die Lieder – das alles lässt sich nur im Augenblick genießen. […]«
- Einer von den schlimmsten Räubern:
Gump, getaufet Ferdinand,
der in Walding war geboren,
war ein rechter Höllenbrand. […] - Doch bevor er steht vorm Richter,
wo man ihm das Urteil spricht,
ist der Räuber Gump gestorben,
steht vorm himmlischen Gericht.
(Aus dem Donaumoos nach 1870, EBES 1997)
Natürlich kann auch ein Textbeitrag in der »zwiefach« nicht das menschennahe Singgefühl, das Miteinander und Zueinanderfinden, das Stehenbleiben der vom Singen überraschten Passanten, die Lust am unperfekten lauten Singen wiederspiegeln. Da muss man sich einfach darauf einlassen – Kinder können das noch sehr gut! Oder sie machen einfach einmal selber mit, in Fußgängerzonen oder auf belebten Plätzen. Gern teilen wir Ihnen unsere nächsten, auch spontanen Singplätze mit!
Oder Sie kommen am Sonntag, 16. Juli ab 12 Uhr nach Eichstätt zum Mittendrin (Stadtmitte, Gutenberggasse), am Samstag, 22. Juli von 11 bis 13 Uhr nach Bad Reichenhall in die Fußgängerzone nahe der Saline oder am 29. Juli von 10 bis 12 Uhr nach Mühldorf am Stadtplatz 48 vor das alte Landrichterhaus. Da passt natürlich das Lied vom Wirtssepperl z’ Garching (Joseph Wasserburger, 1788–1857), der vor 200 Jahren dort vor seinem Richter stand.
- Jetz wern ma oans singa,
a Liadl, a neus,
zweng an Wirtssepperl z’ Garching
und zweng seina Schneid. […] - Es is koana gwesn
und kimmt koana mehr a,
wia da Wirtssepperl z’ Garching,
da Wasserburga!
Der Volksmusikpfleger des Bezirks Oberbayern, Leonhard Meixner, hat uns heutige Moritatensänger dankenswerterweise mit unseren ab 1990 erstellten Taschenliederheften (Nr.1 bis 8) ausgestattet und die Moritatentafel mit den Bildern übergeben – somit ziehen wir auch als Rentner weiterhin durch Oberbayern. Gern können Sie sich anschließen und auch mitziehen.
Wolfgang und Regina Killermann mit dem hölzernen Handwerkszeug der Moritatensänger
Wie kam es dazu?
Wenn man ergründen will, warum wir das Singen dieser vielfältigen Erzähllieder in unser persönliches Leben und in die Aufgaben der damaligen Volksmusikpflege aufgenommen haben, dann muss man bis in die 1970er-Jahre zurückschauen. Als junge Studenten lernten wir Prof. Dr. Otto Holzapfel vom Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg kennen, wo eine riesige Balladensammlung vorhanden ist und wissenschaftlich ediert wurde. Wolfgang A. Mayer vom Institut für Volkskunde in München hat auf den Volksmusiklehrgängen des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege zu später Stunde mit den Teilnehmern Balladen gesungen und getanzt. Bei Feldforschungen in Oberbayern lernten wir Gewährsleute kennen, die ganze Balladen oder Fragmente singen konnten (z. B. 1976 Fritz Huber aus Ostermünchen). Frauen und Männer sangen ganz selbstverständlich traurige Moritaten und Küchenlieder – oder auch die trotzigen Geschichten vom Boarischen Hiasl und von regional bekannten Wildschützen.
- Mir wolln enk jetz singa,
a Liadl a neus,
von Adam und Eva,
vom Paradeis.
Fidrallalala … […] - Und ’s Liadl is gsunga
und schee hat ’s net to.
Was geht des de lausigen
Zualoser o?
Fidrallalala …
(Familienüberlieferung Rosa Linhuber, Meisham/Eggstätt)
Im Bildungswerk Rosenheim lernte ich das Ehepaar Sepp und Rosa Linhuber aus Eggstätt kennen, von deren Adam- und Eva-Lied wir alle begeistert waren, denn da durften wir im Refrain mitsingen. Wir suchten nach weiteren dieser Erzähllieder und fanden Lieder zu historischen Ereignissen, wie z. B. über die Bernauerin. Und schon gab es gesellige Runden mit diesen vielstrophigen Liedern, die eine Geschichte erzählten. Dazu kamen auch kritische Lieder über die Obrigkeit und die gesellschaftlichen Zustände – auch von denen wollten die Zuhörer die Texte haben. In den geselligen Runden um 1980 (z. B. am Kirchweihmontag im Bauernhausmuseum Amerang) haben wir dann erstmals Liederblätter zum Mitsingen ausgeteilt – und erhielten im Gegenzug Hinweise auf Leute, die noch diese alten langen Lieder sangen.
Unser Handwerkzeug
Irgendjemand hat uns dann Moritatensänger genannt. Als die Auftritte im öffentlichen Raum Ende der 1980er-Jahre immer mehr wurden, wollten wir wie die alten Bänkelsänger auch einen optischen Anziehungspunkt haben. Der Linhuber Sepp war ein handwerklich begabter Mensch und fertigte in seiner Schreiner-Garage in Meisham unsere erste Moritatentafel aus Holz, die er immer weiter perfektionierte. Darauf wurden dann die ersten von Eva Bruckner gezeichneten und ausgemalten farbigen Bildertafeln aus Papier festgemacht – anfangs mit Klupperl wie auf einer Wäscheleine. Der Wind verwehte manche dieser Bildertafeln. So haben wir die Papiertafeln immer stärker befestigt, schließlich mit Klettband an der Holztafel angemacht. Bei jedem Lied wurde eine neue Bildertafel passend zum Liedertext aufgezogen. Die Besucher und Mitsänger, vor allem auch die Kinder, waren von den Bildern fasziniert. Mit einem Zeigestab haben wir den Fortgang der Lieder auf den Bildern angezeigt – immer öfter trauten sich Passanten uns dabei zu unterstützen. Das waren die ersten Erfahrungen als neuzeitliche Bänkelsänger, die wir bei Sonne, Wind und Regen auf den Straßen sammelten, z. B. in Rosenheim in der Fußgängerzone.
Bestellbar
Die Taschenliederhefte (je 0,50 Euro) sind erhältlich beim Volksmusikpfleger des Bezirks Oberbayern, Leonhard Meixner: ⮹ leonhard.meixner@bezirk-oberbayern.de.
Je mehr wir mit dem Auto unterwegs waren, um auf Straßen und Plätzen in Oberbayern und auch im angrenzenden Land Salzburg zu singen, desto wichtiger wurde die gute Transportmöglichkeit der Materialien: Gitarre und Akkordeon hatten ihren festen Platz im Kofferraum, dazu kamen die Liederblätter und späteren kleinen Liederheftl für die Passanten zum Mitsingen. Aber das große Gestell für die wechselnden Bildertafeln zu den verschiedenen Liedern war unpraktisch und nahm zu viel Platz ein: Den mitfahrenden Sängerinnen und Sängern verwehrte die über 2,5 Meter lange Stange das Ein- und Aussteigen auf den Rücksitzen. Dazu kam das große Holzkreuz, einem Christbaumständer nachempfunden, in das die lange Stange hineingedreht wurde und der Holztafel Halt und veränderbare Höheneinstellungen bot. Die Bildertafeln selbst waren aus Papier, mehrfach geklebt und auf der Bilderseite mit durchsichtiger Klebefolie vor Nässe geschützt. Wir rollten diese großen Bilder und transportierten sie in runden Waschmitteltonnen aus starker Pappe, beklebt mit Notenpapier.
Alles nahm viel Raum ein, dazu die insgesamt vier oder fünf Insassen im Auto. Der Linhuber Sepp wusste wiederum eine Lösung. Die lange Stange hat er in der Mitte auseinandergeschnitten und mit Bajonettverschluss zum Zusammenstecken versehen. Die große Holztafel hat er ebenfalls in der Mitte geteilt, mit Scharnieren zum Zusammen- und Auseinanderklappen und Befestigungen versehen. Ganz nebenbei wurde die Holztafel beschriftet: »Balladen, Moritaten und gesungene Geschichten – Einem hochverehrten Publikum zum unschuldigen Vergnügen geboten.« Das machte die Passanten neugierig und verführte zum Innehalten ob der Antiquiertheit der Buchstaben und der Botschaft. Nun passte alles in den Kofferraum und auch die Sänger konnten im Auto untergebracht werden.
Die Erfahrungen bei den ersten Auftritten in den Fußgängerzonen von Rosenheim und München, auf den Märkten in Traunstein, Miesbach und Bad Tölz zeigten uns das große Interesse der Passanten an den Liedern, den Bildern und dem Mitsingen. Aber das Problem waren die Liederblätter im Format Din A4! Die Leute konnten sie schlecht halten und sie waren umständlich zum Mitnehmen in Taschen und Gewändern.
Die Taschenliederheftchen
Und wieder erinnerten wir uns an die alten Bänkelsänger: Deren Flugschriften mit den Texten, die sie zum Verkauf anboten, waren kleiner, schmäler und zum Einstecken geeignet. Wir entschieden uns, diese Erfahrung der Sänger aus früheren Jahrhunderten zu nutzen, unsere Lieder zum Mitsingen in kleine Taschenliederheftchen (Din A 6, 16 Seiten) zu schreiben und in großer Anzahl billig zu drucken. Zur Unterscheidung wurden diese Heftchen dann später auf dem Titel durchnummeriert und hatten jeweils eine andere Papierfarbe. Die Verbreitung und Breitenwirkung der acht verschiedenen Heftchen der Reihe Balladen, Moritaten und gesungene Geschichten war groß: Jedes erlebte bis zu acht Neuauflagen und von manchen wurden vom Bezirk Oberbayern bis zu 40.000 Stück gedruckt. Wir schafften es somit, dass diese langen Erzähllieder bequem zum Mitnehmen waren – und daheim oder mit Freunden auch wieder zum Selbersingen bereitstanden.
Öffentlichkeitswirksam
Als die Bezirke als Institution in den 1990er-Jahren in Frage gestellt wurden, nach der Abschaffung des Bayerischen Senats auch ein Volksentscheid über die Abschaffung dieser dritten kommunalen Ebene drohte, wurden wir als Moritatensänger von der Politik und der Verwaltungsspitze des Bezirks Oberbayern aufgefordert, möglichst oft auf Straßen und Plätzen zu singen und damit den Bezirk in der breiten Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.
Aktuelles
Wir versuchten, mit den Liedern und unseren Kommentaren wo möglich einen Bezug zu gegenwärtigen Lebenssituationen und aktuell bewegenden Ereignissen herzustellen. Dazu dienten immer wieder auch neu gemachte Liedertexte zu aktuellen Anlässen (z. B. Braunbär Bruno 2006, Dritte Startbahn im Erdinger Moos 2007, Heimatspiegel im BR 2010, Staatsschuldenkrise 2012, BR-Heimat digital 2016). Diese Liederblätter hatten das große Papierformat Din A4, das man zum Einstecken zweimal falten musste.
Ein besonderes überregionales und mediales Interesse erregte unser Lied von der Dritten Startbahn im Erdinger Moos, bei dessen erstmaligem Singen in Freising 2007 der damalige oberbayerische Bezirkstagspräsident Franz Jungwirth aktiv mitwirkte. Nach der Wahl eines neuen Bezirkstagspräsidenten erregte der Text bei der Politik Anstoß und es wurde mir von der Verwaltungsspitze verboten, dieses Lied öffentlich zu singen und zu verbreiten. Das öffentlich diskutierte Verbot trug wesentlich zur Verbreitung des Liedes bis heute bei, nicht nur bei den Startbahngegnern in der Region Freising/Erding.
Wir haben versucht, mit den Taschenliederheftchen eine große Bandbreite der erzählenden Lieder mit oft sehr vielen Strophen abzudecken: Dabei stehen Mundartlieder neben hoch- und umgangssprachlichen Texten, Moritaten mit dem Zeigefinger der Oberschicht des 19. Jahrhunderts neben tiefgründigen jahrhundertealten Balladen über das Zusammenleben der Menschen, lustige Schwank-Geschichten neben Fabelliedern, Gesänge über historische Ereignisse, Personen und ehemals aktuelle Erinnerungslieder an den Tod von Wildschützen neben zeitlosen Inhalten. Manche Lieder haben wir (EBES) auf der Basis der Überlieferung für das gegenwärtige Singen neugestaltet.
Die Bilder
Mit entscheidend für das Gelingen sind die Bilder zu den Liedern mit handelnden Personen, dem Fortgang der Geschichte und auch kleinen Details für die Kinder. Diese stehen oft mit großen Augen davor, dürfen mit dem Zeigestab auf die Bilder zeigen. Die Bildertafel ist der weithin sichtbare Mittelpunkt des Moritatensingens, um sie scharen sich die Passanten.
Eva Bruckner hat die allermeisten Bildertafeln entworfen, gezeichnet und auch angemalt. Lothar Rosner (†) aus Haar, Franz Xaver Taubenberger (†) aus Holzkirchen und Wolfgang Killermann aus München (und unsere Kinder) waren weitere Bildgestalter, ein jeder in eigener Weise.
Ausbaufähig
Dieser Beitrag kann nur ein kleiner Überblick aus der Erinnerung und meinen Jahreskalendern sein. Detailliert und mit Daten, Personen und Liedern kann ein Bericht über die langsame Wiedergeburt der Bänkel- und Moritatensänger in Oberbayern von Mitte der 1970er-Jahre bis 2020 erfolgen, wenn der Zugang zu den von uns im Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern gesammelten Materialien und persönlichen Aufzeichnungen wieder möglich ist.
Aufmacherbild:
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