»Ich hab amal an Schatz gehabt«

Eine Reise in das verlorene Paradies meiner Oma

27. Juli 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

Text und Fotos: Dagmar Held

In sehr vielen Volksliedern ist die Liebe mit all ihren Facetten das überragende Thema – von der sehnsuchtsvollen Liebeserklärung bis hin zum schnöden Verrat ist alles zu finden. Das poetische Liebeslied, das ich hier vorstellen möchte, hat eine weite Reise hinter sich. Gefunden habe ich es in einem dünnen Büchlein, einer Sammlung mit südmährischen Volksliedern und Tänzen. Warum ich gerade dieses Lied aus gerade dieser Liedersammlung ausgewählt habe, hat einen ganz persönlichen Grund: Der Fundort des Liedes ist eng mit meiner Familiengeschichte verknüpft und davon möchte ich gern erzählen.

1. Thaya, ein Vogelparadies,
2. die Pollauer Berge mit Thaya
3. Znaim

Die alte Heimat – das ­verlorene Paradies
Es ist die Geschichte meiner Oma mütterlicherseits, die aus Südmähren stammt (einem Teil des Sudetenlandes) und die – wie so viele andere – nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen musste. Dieser, im heutigen Tschechien gelegene Landstrich an der Thaya (nördlich von Wien direkt an der Grenze zu Niederösterreich) war das verlorene Paradies meiner Oma. Diesen Eindruck hatte man zumindest, wenn sie davon erzählte. Dort war einfach alles schöner. Vor allem war es wärmer. Jeder hatte seinen eigenen kleinen Weinberg – mit Weinkeller versteht sich. Und sogar Pfirsiche und Aprikosen konnte man im eigenen Garten ernten. Ich erinnere mich gut, dass ich als Kind meine Oma immer wieder bat, mir von diesem Paradies zu erzählen, was sie auch bereitwillig in ihrem schönen südmährischen Dialekt tat. Noch dazu konnte meine Oma wunderbar kochen. Sie zauberte auf ihrem nunmehr schwäbischen Küchenherd all die Köstlichkeiten ihrer südmährischen Heimat: Hefeknedl, Platzgan, Fleckan, Wuchteln – so hießen die kulinarischen Genüsse meiner Kindheit.

Auf der Fotografie ist meine Oma Maria ­Widholm (1903–1990) zu sehen, zusammen mit ihren drei Kindern Inge (meine Mama), Anna und dem kleinen Wilfried. Auf der Rückseite ist mit Bleistift vermerkt: »1946 in Bayern«. Vermutlich ist es das erste offizielle Bild in der neuen Heimat. Ich habe es zwischen das feine Kaffeegeschirr platziert, eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ich von meiner Oma habe. Das Dekor ist bei vielen Tellern kaum noch zu sehen, so oft wurde es gespült. Es deshalb wegzuwerfen ist aber keine Option. Im Gegenteil, ich hüte es immer noch wie einen Schatz. Ganz vorne habe ich noch die Scheibe dazugestellt, die ich von dem Campingplatzbesitzer aus Weißstätten bekommen habe.

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Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln
Diese sehnsuchtsvollen Erzählungen weckten in mir den Wunsch, die Heimat meiner Oma und meiner Mutter einmal mit eigenen Augen zu sehen. Zusammen mit meiner Freundin Hedwig machte ich mich 1990 mit dem Fahrrad auf den Weg. Und sie hatte nicht zu viel versprochen: Ich fand die Weinberge, die sich an die Hügel entlang der Thaya schmiegen und ich fand auch die Weinkeller am Wegesrand und in den Dörfern. Sehr markant und alles überragend sind auch die weißen Felsen der Pollauer Berge und eindrucksvoll die nahegelegenen Städte Nikolsburg (Mikulov) und Znaim (Znojmo).
Vielleicht lag es aber auch an dem besonderen Gefühl, auf den Spuren meiner Vorfahren zu wandeln, dass mich die Landschaft so verzaubert hat und oft fragte ich mich, wo wohl meine Oma entlanggegangen war. Wo hatte sie auf dem Markt eingekauft? Welche Ortschaften waren für sie zu Fuß oder mit dem Pferdewagen noch erreichbar? Was war ihre Lebenswelt? Wie hat sie sich gefühlt, als klar war, dass sie all dies verlassen muss? Leider sind mir viele Fragen erst eingefallen, als sie nicht mehr da war.
Vieles hat sich natürlich auch verändert. Die Thaya wurde zu einem riesigen See aufgestaut, der heute eine große Freizeitattraktion ist. Das kleine Dorf Muschau (Musov) musste diesem See weichen. Nur noch die kleine Kirche St. Leonhard ist übrig geblieben – auf einer kleinen Insel inmitten des Sees. Weißstätten (Pasohlávky), das Heimatdorf meiner Oma, liegt heute an diesem See, ausgestattet mit Seepromenade und mehreren Campingplätzen.

1. Muschau im See,
2. Weinkeller
3. Weinberge
4. Nikolsburg

Ein Zeichen der Versöhnung
Auf einem dieser Zeltplätze schlugen wir unser Lager auf. Der Besitzer war recht neugierig, was die zwei jungen deutschen Studentinnen denn nach Tschechien verschlagen hatte und fragte nach dem »woher« und »wohin«. So gut es ging, verständigten wir uns mit wenigen Brocken tschechisch bzw. deutsch – und Händen und Füßen. Er fragte auch nach dem Familiennamen meiner Oma und beim Stichwort »Hainka« sagte er plötzlich: »Moment!« Er kam zurück mit einer kleinen kupfernen Scheibe, die einmal an einem Pferde- oder Ochsengeschirr befestigt gewesen war, auf der »Karl Hainka – Weißstätten No. 7« eingraviert war. Ich traute meinen Augen kaum. Er erzählte, er habe die Scheibe beim Umgraben seines Gartens vor vielen Jahren gefunden und aufbewahrt um sie dieser Familie geben zu können, falls sie einmal kommen sollte. Eigentlich unglaublich! Das war für mich ein sehr bewegender Moment. Und ein großes Zeichen der Hoffnung und der Versöhnung.

Kupfernen Scheibe die einmal an einem Pferde- oder Ochsengeschirr befestigt gewesen war, mit einer Gravu: »Karl Hainka – Weißstätten No. 7«

Der gerettete Schatz
Meine Oma erzählte mir auch von ihrem Lehrer Wenzel Max (1898–1982), der Oberlehrer, Chorleiter und Heimatforscher in Weißstätten und dem benachbarten Dürnholz war. Dieser unterrichtete nicht nur die Kinder, sondern sammelte auch im ganzen Umkreis Volkslieder und Tänze. Es war gar nicht so leicht, diesen Schatz durch die Kriegswirren zu retten. Er schreibt dazu:
»Die handgeschriebene Sammlung wurde von meiner Frau, Rosa Max, am 15. April 1945 in Dürnholz, gemeinsam mit anderen Büchern in einem Holzschupfen vergraben, um sie vor der herannahenden Front in Sicherheit zu bringen. Bei der Vertreibung im Juni 1946 kam dieses wertvolle Buch – unter Werkzeugen versteckt – unbehelligt, aber unter großen Ängsten, durch die Kontrolle der Partisanen.«
In Germering (bei München) fand er eine neue Heimat. Erst 25 Jahre später (1972) veröffentlichte er diese interessante Sammlung unter dem Titel Thayaland – Volkslieder und Tänze aus Südmähren.
Auf der Suche nach meinen Wurzeln bin ich auf diese Liedersammlung gestoßen, denn meine Oma konnte mir diesbezüglich nicht weiterhelfen. Sie konnte zwar, wie ich oben schon erzählt habe, wunderbar kochen, aber leider nicht besonders gut singen. Und so bin ich auf der Suche nach südmährischen Liedern auf die Liedsammlung von Wenzel Max gestoßen, mit dem sich der Kreis zur Heimat meiner Oma dann doch wieder geschlossen hat. Eins der Lieder daraus war eben dieses sehr berührende Liebeslied Ich hab amal an Schatz gehabt und kann ihn nimmer finden. Ich hoffe, allen Lesern gefällt es genauso gut wie mir. Mit unserem Liederlust-​Projekt haben wir das Lied vierstimmig eingesungen. Hier kann man die einzelnen Stimmen lernen und das Lied mit uns mitsingen: www.volksmusik-magazin.de/liederlust-ich-hab-amal-an schatz-gehabt/ Viel Freude damit!

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