Ein Baum ist Leben. Er dient als Sinnbild für das Leben auf unterschiedlichsten Ebenen: für die Natur, die globale Gesellschaft sowie für den einzelnen Menschen. Ein Lindenbaum ohne Raum, Sonnenlicht und starke Wurzeln kann nicht die imposante Statur annehmen, derer er fähig wäre.

Sinnbild für uns? Sinnbild für mich? Sinnbild für Dich?

Die Nährstoffe, die wir bekommen, den Raum und das Licht, das wir für unsere Krone zum Strecken und Dehnen bekommen, die Zeit und die Energie, die wir zum Heilen von Wunden bekommen; das alles macht uns aus und entwickelt uns – oder eben nicht. Ein, den Lindenbaum krakenförmig, drohend umschließender Strauch, kann den kräftigsten Baum abschnüren; jegliche Anstrengungen verlaufen in die Erde. Es schlummert viel Potential verborgen im Untergrund, aber die äußerliche Erscheinung ist klein und kümmerlich – Blüten, Äste und Blätter strahlen nicht der Sonne entgegen.

Strahlend blühen durch Gemeinschaft und Individualität

Singen und Musizieren bringt uns zum Blühen, ist Persönlichkeitsbildung, ist Gemeinschaft und Individualität zugleich – zwei, nach dem Hirnforscher Gerald Hüther [in: Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, Frankfurt am Main, 2011], menschliche Grundbedürfnisse.

Ein Mensch, der in einer Gruppe zu singen und musizieren weiß, ist sich seiner Rolle im Kollektiv bewusst. Was ist gerade meine Aufgabe? Soll ich mich möglichst gut anpassen? Soll ich führen? Bin ich zu schnell oder zu langsam, zu laut oder zu leise? Es geht sowohl um individuelle als auch um kollektive Bedürfnisse und deren Erfüllung, die sich bestenfalls nicht widersprechen. Lässt sich das nicht auch auf viele andere Bereiche des Lebens übertragen?

Das Anliegen des Steirischen Volksliedwerks

Gemeinsames Singen und Musizieren ermöglicht es also sich selbst in der Gesellschaft zu finden, gleichermaßen Individualität und Gemeinschaft zu erleben. Als neuer Geschäftsführer des Steirischen Volksliedwerks möchte ich möglichst vielen Menschen dieses Erlebnis ermöglichen. Aus diesem Grund unterstützen wir singende und musizierende Menschen und vor allem diejenigen, die es noch werden wollen. Singst und musizierst Du schon? Können wir Dir weiterhelfen?

Meine persönlichen Wurzeln, Äste und Blüten

Ich bin als zehntes Kind auf einem Bauernhof in der Obersteiermark aufgewachsen und bekam mit neun Jahren das Flügelhorn und die Harmonika in die Hand gedrückt – keine Selbstverständlichkeit, neben Schule und Mithilfe am Hof dafür Zeit und Geld für den Unterricht zu bekommen. Zu üben war nie lästig oder anstrengend, sondern Freizeit; ist es immer noch. Selbstständigkeit und Eigeninitiative waren dazu notwendig und prägen mich bis heute. Immer mehr. Singen und Musizieren hat mich entwickelt, bis heute. Immer mehr sind diese Wurzeln gewachsen, sozusagen zu Herz-​Wurzeln.

Herz-​Wurzeln

Linden sind Herzwurzler. Nach flachen Wurzeln in ihrer Kindheit, bilden sie als Erwachsene ein herzförmiges Wurzelsystem aus. Tief, fest wie Pfahlwurzler und doch großflächig wie Flachwurzler, also eine wunderbare Kombination. Abgesehen von der Standfestigkeit ist dieses System zum Großteil für die Wasser- und Nährstoffaufnahme zuständig; den Rest ergänzen die Spaltöffnungen der Blätter – ein Konstrukt für Halt und Energie also. Die Volksmusik und die Natur sind meine persönlichen Wurzeln und geben mir Fundament im Leben.

Aber ich habe mich auch getraut zusätzlich eigene Wurzeln zu schlagen. Wurzeln, die ich ausgesucht habe. Das kann jeder machen, das soll jeder machen.
Nicht alle haben das Glück auf einem nährstoffreichen Boden mit viel Licht und Raum aufzuwachsen. Manche Standorte eignen sich schlicht nicht für eine Linde. Wieso nicht einen Schritt zur Seite treten und neue Wurzeln wachsen lassen? Wurzeln geben Halt, sollen aber genauso Veränderung und Entwicklung begünstigen.

Alte und neue Wurzeln

Ich habe also unterschiedliche Wurzeln. Nach meiner Kindheit im steirischen Ennstal, studierte ich auf der Universität für Bodenkultur den Master Alpine Naturgefahren. Das Studium gab mir auch die Möglichkeiten stetig mehr zu musizieren, weshalb ich beschloss, in München das instrumentalpädagogische Studium Volksmusik mit dem Hauptfach Steirische Harmonika anzuhängen. Die Dozentinnen und Dozenten lehrten mich zu lehren, mir selbst zu vertrauen und zu reflektieren. Eine Woche bestand aus einer Busreise am Sonntagabend von Graz nach München, Montag bis Donnerstag üben und studieren auf der Hochschule für Musik und Theater, Donnerstagabend Heimreise nach Graz, Freitag nach Wien und zurück, um als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität einen Zuverdienst zu erhalten, am Samstag einen Auftritt, Sonntag eine Probe und dann wieder nach München. Ein aufregender und intensiver Lebensabschnitt, wofür ich sehr dankbar bin; und vor allem dankbar, für alle inspirierenden und netten Studienkollegen und Begegnungen.

Bild mit Sinn?

Vier Jahre in München später bin ich nun in Graz gelandet und darf beim Steirischen Volksliedwerk als Geschäftsführer, Musiker, Pädagoge und Redakteur arbeiten. Eine Richtung meiner Krone, meiner Äste im Leben, die ich gar nicht vorhersehen konnte. Sinnbild oder nicht – die Linde meines Lebens ist auf jeden Fall eigenwillig und spannend. Wie wächst Deine Linde? Singt und musiziert sie ein blühendes Bild mit Sinn?